Thomas Frahm
Das Kreischen der letzten Straßenbahn,
aus der er vor wenigen Minuten ausgestiegen war, stach ihm wie
spitze Eisnadeln ins Ohr. Ihm war so kalt, dass er sich noch nicht
einmal mehr daran erinnerte, ob er einsam war oder nicht. Kostedde
lief durch die ungemütliche Februarnacht von Sofia und wollte
am liebsten sofort wieder nach Hause. Aber das widersprach dem,
was er mit sich selbst ausgemacht hatte: Dass er nicht mehr zurückweichen
wollte, nur weil er Angst hatte. Er stapfte über den holprigen
Gehweg, auf dem weiße Raureifperlen glänzten, und lief
erst mal vorbei. Nach einer Weile drehte er sich um und sah weit
hinter sich die mintgrünen Lamellenrollos, die die spröde
Stimme am Telefon ihm beschrieben hatte.
Ein Polizeiwagen rollte lautlos vorbei. Kostedde erschrak. Er
fragte sich instinktiv, ob er nach bulgarischer Rechtsauffassung
im Begriff war, etwas Kriminelles zu tun. Er lebte jetzt seit
einem Jahr hier und war sich inzwischen in gar nichts mehr sicher.
Er war dünnhäutig und vorsichtig geworden. Nach allem,
was in Deutschland zu Ende gegangen war und hier in Bulgarien
noch nicht angefangen hatte, wusste er nicht einmal mehr, ob er
Männlein oder Weiblein war. Deswegen hatte er sich in einem
Anfall von "Jetztreicht's!" diese Abendzeitung mit diesen
Anzeigen gekauft, diese Nummer angerufen und sich nach einem Schnaps
und einer Zigarette auf den Weg zu diesem Etablissement gemacht,
das offiziell Begleitservice hieß, in Wirklichkeit
aber ein kleiner Puff in einem angemieteten Appartement war.
Kostedde drückte auf die Klingel. Ein affiges Gejaule ertönte.
Huh, sind die hier aber lustig drauf, dachte er. Jetzt fehlte
nur noch, dass die Tür aufgerissen wurde und er mitten hinein
in eine unglaublich lustige Orgie stolperte ...
Stattdessen tat sich erst einmal eine ganze Weile gar nichts.
Dann ging die Tür auf.
"Kommen Sie rein", sagte eine müde Stimme, die
hinter der Tür hervorkroch und wie zerkratzter Samt klang.
Die Frau, die ihm jetzt vorausging, sich linkisch umdrehte und
mit der linken Hand nach rechts wies, war unbeschreiblich dünn.
Sie war die vier Stufen der kleinen Treppe hinaufgestiegen und
sah von unten größer aus, als sie war. Kostedde schaute
auf ihre weinroten Stiefel. Dann auf die Beine darüber, die
nicht übel gewesen wären, wenn sie ein bisschen mehr
Fleisch gehabt hätten. Der kurze Rock wirkte fast makaber,
denn er sollte ja Lustgefühle wecken; aber hier - was bedeckte
er denn? Das Oberteil war ein trägerloses Top aus Jeansstoff
mit Fransen, Applikationen und Strass - eines von den vielen verrückten
Teilen, die man hier in den tausenden von Lädchen und Boutiquen
sehen konnte, die die Bulgarinnen abklapperten bei dem Versuch,
sich sowohl vom elenden Grau als auch vom grauen Elend ihres Landes
abzuheben.
Aus dem eingefallenen Gesicht flackerten ihm zwei undefinierbare
Augen grünlich zu: Ich kann Ihnen auch nicht sagen, was
Sie wollen, mein Herr ... Doch die dünnen Lippen dieses
Wesens sagten einfach nur: "Bitte!"
Kostedde folgte dem Wesen nach nebenan in den Empfangsraum. An
der Wand links stand ein kleines Rattan-Sofa. Davor ein solider
Tisch. Gegenüber ein Regal aus Kirschholz. Rechts davon ein
Gestell mit Weinen und Sekt. Donnerwetter, die machten hier ja
einen auf Stil! Er setzte sich hin mit dem Gefühl, dass er
alles erwartet hatte, nur das nicht: Die Frau passte nicht ins
Ambiente, das Ambiente passte nicht in den allgemeinen Lebensstandard,
und er passte zu gar nichts von alledem. Das Wesen blieb in der
Nähe der Tür stehen und sagte entschuldigend: "Es
tut mir leid, aber ich bin heute allein hier."
"Das trifft sich gut", sagte er, und wunderte sich,
was in ihn gefahren war, "ich bin auch allein hier!"
In dem fast grellen Licht, das von außen so unangenehm klinisch
durch die Rollos gedrungen war, sah sich Kostedde die Frau genauer
an. Er schätzte sie so auf Ende zwanzig, obwohl sie älter
aussah. Sie war nicht eigentlich verblüht, sondern nur auf
jene bulgarische Weise strapaziert, die es so schwer machte, das
Alter zu schätzen. Die Gesichtshaut war vom Rauchen in Mitleidenschaft
gezogen, trotzdem musste sie mal gut ausgesehen haben.
Er war auf einmal so schrecklich nervös, dass er sich fragte,
ob es nicht wirklich besser war, einfach wieder zu gehen. Sein
Schwanz fühlte sich an wie ein besoffener Zapfhahn. Den würde
er heute Nacht unmöglich in Stellung bringen! Dann erinnerte
er sich, dass in der Anzeige auch von Massagen die Rede gewesen
war. Also fragte er, um Zeit zu gewinnen, was denn eine Massage
koste. Eine Massage würde ihn vielleicht sogar doch noch
genügend auf Touren bringen ... Plötzlich fühlte
er, wie eine Art Sturheit ihn ritt. Obwohl seine Hände sich
noch immer wie Eisblöcke anfühlten, gab er sich einen
Ruck und sagte:
"Also gut ... Weißt du was, ich nehm eine Stunde und
basta!"
Die Frau entschuldigte sich, sie müsse das Geld dann jetzt
schon bekommen.
Warum entschuldigte sie sich schon wieder?
Kostedde spürte, dass er ihr fast etwas Tröstendes gesagt
hätte. Als die Frau das Geld im gegenüberliegenden Raum
abgeliefert hatte, in dem es verdächtig still war, ging sie
in Richtung Regal und drückte sich mit ihrem ganzen nicht
vorhandenen Körpergewicht dagegen. Das sah jetzt wirklich
fast lustig aus, wie dies Wesen, das sich so schlaksig bewegte
wie ein Schal, die ganze Regalwand wegzudrücken versuchte.
"Soll ich helfen?", fragte Kostedde.
"Neinnein", sagte sie, und da öffnete sich die
Wand auch schon. Ein abgedunkelter Raum wurde sichtbar, in dem
linker Hand ein nagelneues französisches Doppelbett stand.
Eine kleine Sitzecke, ein Garderobenständer und sogar ein
Stummer Diener, auf dem zwei Handtücher lagen, ergänzten
das Mobiliar. Auf dem Boden befand sich ein Teppich, der alles
andere als billig aussah. Unter der Heizung reihten sich einige
Paare Gummischlappen für den Fall, dass der Kunde duschen
wollte; vor allem aber war das eine dezente Einladung, die Straßenschuhe
aus Bettnähe fernzuhalten, die in der Regel nach einem Gang
durch das winterliche Sofia, in dem nicht gestreut und oft auch
nicht geräumt wurde, bis oben voll Dreck waren.
Die Frau wies ihn lustlos auf alles das hin. Dann entschuldigte
sie sich, sie müsse noch mal ins Bad. Kostedde dachte an
Ess-Brechsucht, und dass es Leute wie er waren, die sie zum Kotzen
brachten.
Während sie weg war, zog er sich langsam aus. Er machte sogar
ein bisschen Gymnastik, um wärmer zu werden. Als die Frau
zurückkam, hielt sie ihm ein Öfchen hin.
"Soll ich das anmachen?"
Nun waren nicht mehr ihre Augen, sondern ihr Mund unsicher. Kostedde
nickte. "Dann muss ich nur das Licht hier ausmachen, wir
haben keine Verteiler-Steckdose ..."
"Okay", sagte Kostedde, "da sehen wir nicht so
genau, was wir machen. Ist vielleicht besser."
Es blieb so ein Schummerlicht. Das bekam dieser Frau gar nicht
schlecht. Und wenn er richtig gehört hatte, war ihrem dünnlippigen
Mund auf Grund seiner flapsigen Bemerkung gerade so etwas wie
ein Kichern entschlüpft
Als sie sich auszog, begann es. Ihre Haut vermählte sich
mit den Flocken, die der Ventilator des Öfchens durch den
Raum wirbelte, und wurde weich und samten. Ihr Po rundete sich.
Die Fingerkuppen ihrer kleinen, kräftigen, aber nicht fleischigen
Hände schienen seinen Schläfen eine sanfte Massage zu
verabreichen, die ihn betäubte.
Er saß inzwischen auf der Ecke des Bettes. Er griff mit
beiden Händen nach ihrer Taille. Er zog sie zu sich. Er zog
sie so nah wie möglich zu sich. Er schloss die Augen. Er
saugte langsam den Duft ihres Parfums ein. Er hatte das Gefühl,
dass die Frau selbst dieses Parfum war. Nach einer unbestimmten
Zahl von Sekunden beschlich ihn die Ahnung, dass eine neue Zeitrechnung
eingesetzt hatte. Unter der Matratze hörte er es krachen
in den Schweißnähten der Welt. Die Magnetfelder stöhnten
unter den Strömen, die sich in der flüssigen Schicht
unter der Kruste der Erde bewegten. Er begann, die Welt noch einmal
ganz neu zu sehen, und zwar nicht mit den Augen, sondern mit der
Haut.
Er rückte auf die Matratze zurück und sagte der Frau:
"Setz dich zu mir." Aber da war sie schon. Er legte
seinen Kopf an ihre Schulter und bat sie, ihn zu umarmen. Aber
da befand sich ihr Arm schon um seinen Kopf. Er griff nach ihrem
anderen Arm, um ... Aber da hatte die Hand des anderen Arms schon
auf seinem Schulterblatt aufgesetzt. Davon hatte er gar nichts
gemerkt! Das war ihm völlig unerklärlich. Er fühlte
nur eines: dass dies der Moment war, der ihn heilte.
Seine ganze Verzweiflung, Unruhe und Nervosität waren weg.
Seine Gedanken befanden sich einfach nicht mehr an den Orten,
die ihn nervös machten, beunruhigten oder zur Verzweiflung
brachten, sondern nur noch hier, im Halbdunkel dieser Matratzeninsel.
Sie fühlten sich vollkommen aufgehoben im Handteller der
Momente, die diese Frau ihm erfand. Seine Beine legte er um sie
herum. Seine Hände streichelten ruhig und hoffnungslos verstört
ihre Rippen. Seine Augen vertieften sich in den Anblick ihrer
Brüste. Sie waren verschwindend klein, aber die Warzen waren
kräftig und schön.
"Wie heißen die auf Bulgarisch", fragte er.
"Wie bitte?", fragte die Frau total überrascht.
"Na, die hier", sagte Kostedde und fasste die eine an.
Da sah er zum ersten Mal, wie schamhaft sie war. Sie traute sich
nicht mal, ihn anzuschauen.
"Beeren", sagte sie endlich.
Beeren. Er wühlte sein Gesicht an ihr Ohr und rieb sich an
ihrer Wange. Beeren. Fast hätte er sie geküsst. Beeren,
Beeren, Beeren. Sie wich nicht zurück.
"Du bist noch nicht lange hier, hm?", fragte er.
"Acht Tage", sagte sie.
"Was geschieht hier?", fragte er weiter und saugte tief
die Luft ein, bis ins Mark irritiert, denn es roch nach Beeren.
"Ich weiß nicht", sagte sie, "angenehm ist
mir."
Bevor das Seidenband dieses Momentes riss, fragte er: "Wie
heißt du?"
"Albena", sagte sie.
"Albena. Und wenn dich einer kennt und gern hat, wie nennt
er dich dann?"
"Wie bitte?"
"Ich meine, wie ist dein Spitzname."
"Benni."
Er schob seine Beine unter die ihren und hob sie auf sich. Er
rieb seinen ganzen Körper an ihr. Sie begann zu stöhnen,
hörte kurz damit auf, zog ihm in einer fast sorgfältigen
Art das Gummi über, wie man einem unselbständigen Kind
Socken anzieht. Und als wäre das die natürlichste Sache
von der Welt, fragte er, während er sie aufs Bett warf und
in sie eindrang:
"Du hast Kinder, nicht wahr?"
"Meinst du, ich wäre hier, wenn ich keine Kinder ernähren
müsste?"
Dann löste sie sich völlig unter, über und in ihm
auf. Er passte mit seinen Bewegungen instinktiv auf. Es war fast
so, als hätte etwas in ihm die Handbremse der Verwunderung
betätigt, damit er nicht in die Abgründe des Wunders
stürzte. Vergeblich. Die Kraft dieser mageren und eben noch
todmüden kleinen Frau riss ihn mit. Was war das für
eine Glut, in der sie da aufloderte? Es war fast beängstigend.
Sie packte ihn überall, zog ihn an sich, drängte sich
in seine Umarmungen, küsste ihn ab, als wäre er ihr
Baby, riss ihn aus den Verankerungen seiner Vorsicht, bis auch
er sie Zentimeter über der Haut besprach mit Worten, die
nicht mehr aus seinem Mund kamen, sondern aus seinem Schädel
hervorbrachen wie Lava.
Als sie zusammen rauchten, passierte der schlimmste aller anzunehmenden
Unglücksfälle. Sie bat ihn: "Erzähl mir was
Lustiges."
Kostedde konnte alles, nur nicht erzählen. Das, was er zu
erzählen hatte, lag ja noch vor ihm. Vielleicht war er deswegen
so besessen davon, sich zu verlieren. Einen Moment sackte er in
sich zusammen, weil jetzt alles aus war vielleicht. Aber es war
nicht aus. Selbst ihm, dessen Leben sich nie zu Geschichten verband,
sondern immer nur zu Momenten und den Bildern davon, selbst ihm
passierten in diesem Land, das sich erzählend aus den Sümpfen
der eigenen Wirklichkeit zog - selbst ihm widerfuhren hier kleine
Geschichten. Er erzählte ihr, wie er wegen seiner mangelnden
Sprachkenntnis einmal Kürbiskopf und Kürbiskuchen verwechselt
hatte. Kürbiskopf ist ein volkstümlicher Ausdruck für
Trottel, und er hatte sich einmal bei einer Frau, die ihn mit
Kürbiskuchen bewirtet hatte, in Anwesenheit des Mannes für
ihren wunderbaren Trottel bedankt ... Ihr Lachen drang durch den
dicken Rauch ihrer Zigarette und klang auf einmal weder spröde
noch unsicher.
Dann war die Stunde um.
Die Wirklichkeit knallte ihre Stahltür ins Schloss und erinnerte
ihn daran, wo er war.
Dennoch tat er etwas, was man an Orten wie diesem nicht tut. Er
holte einen Zettel aus seinem Portemonnaie, schrieb seinen Namen
und einige Ziffern darauf und sagte:
"Das ist meine Telefonnummer. Bitte, wenn irgendwas ist,
mit dir oder mit deinen Kindern - ruf mich an." Er überlegte
kurz. "Nein, auch wenn gar nichts ist ..."
Albena überlegte hörbar.
"Dienstag", sagte sie, "Dienstag ruf ich dich an."
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