Texte
Am Erker 55, Münster, Juni 2008
 

Thomas Frahm
Glut

Das Kreischen der letzten Straßenbahn, aus der er vor wenigen Minuten ausgestiegen war, stach ihm wie spitze Eisnadeln ins Ohr. Ihm war so kalt, dass er sich noch nicht einmal mehr daran erinnerte, ob er einsam war oder nicht. Kostedde lief durch die ungemütliche Februarnacht von Sofia und wollte am liebsten sofort wieder nach Hause. Aber das widersprach dem, was er mit sich selbst ausgemacht hatte: Dass er nicht mehr zurückweichen wollte, nur weil er Angst hatte. Er stapfte über den holprigen Gehweg, auf dem weiße Raureifperlen glänzten, und lief erst mal vorbei. Nach einer Weile drehte er sich um und sah weit hinter sich die mintgrünen Lamellenrollos, die die spröde Stimme am Telefon ihm beschrieben hatte.
Ein Polizeiwagen rollte lautlos vorbei. Kostedde erschrak. Er fragte sich instinktiv, ob er nach bulgarischer Rechtsauffassung im Begriff war, etwas Kriminelles zu tun. Er lebte jetzt seit einem Jahr hier und war sich inzwischen in gar nichts mehr sicher. Er war dünnhäutig und vorsichtig geworden. Nach allem, was in Deutschland zu Ende gegangen war und hier in Bulgarien noch nicht angefangen hatte, wusste er nicht einmal mehr, ob er Männlein oder Weiblein war. Deswegen hatte er sich in einem Anfall von "Jetztreicht's!" diese Abendzeitung mit diesen Anzeigen gekauft, diese Nummer angerufen und sich nach einem Schnaps und einer Zigarette auf den Weg zu diesem Etablissement gemacht, das offiziell Begleitservice hieß, in Wirklichkeit aber ein kleiner Puff in einem angemieteten Appartement war.
Kostedde drückte auf die Klingel. Ein affiges Gejaule ertönte. Huh, sind die hier aber lustig drauf, dachte er. Jetzt fehlte nur noch, dass die Tür aufgerissen wurde und er mitten hinein in eine unglaublich lustige Orgie stolperte ...
Stattdessen tat sich erst einmal eine ganze Weile gar nichts.
Dann ging die Tür auf.
"Kommen Sie rein", sagte eine müde Stimme, die hinter der Tür hervorkroch und wie zerkratzter Samt klang.
Die Frau, die ihm jetzt vorausging, sich linkisch umdrehte und mit der linken Hand nach rechts wies, war unbeschreiblich dünn. Sie war die vier Stufen der kleinen Treppe hinaufgestiegen und sah von unten größer aus, als sie war. Kostedde schaute auf ihre weinroten Stiefel. Dann auf die Beine darüber, die nicht übel gewesen wären, wenn sie ein bisschen mehr Fleisch gehabt hätten. Der kurze Rock wirkte fast makaber, denn er sollte ja Lustgefühle wecken; aber hier - was bedeckte er denn? Das Oberteil war ein trägerloses Top aus Jeansstoff mit Fransen, Applikationen und Strass - eines von den vielen verrückten Teilen, die man hier in den tausenden von Lädchen und Boutiquen sehen konnte, die die Bulgarinnen abklapperten bei dem Versuch, sich sowohl vom elenden Grau als auch vom grauen Elend ihres Landes abzuheben.
Aus dem eingefallenen Gesicht flackerten ihm zwei undefinierbare Augen grünlich zu: Ich kann Ihnen auch nicht sagen, was Sie wollen, mein Herr ... Doch die dünnen Lippen dieses Wesens sagten einfach nur: "Bitte!"
Kostedde folgte dem Wesen nach nebenan in den Empfangsraum. An der Wand links stand ein kleines Rattan-Sofa. Davor ein solider Tisch. Gegenüber ein Regal aus Kirschholz. Rechts davon ein Gestell mit Weinen und Sekt. Donnerwetter, die machten hier ja einen auf Stil! Er setzte sich hin mit dem Gefühl, dass er alles erwartet hatte, nur das nicht: Die Frau passte nicht ins Ambiente, das Ambiente passte nicht in den allgemeinen Lebensstandard, und er passte zu gar nichts von alledem. Das Wesen blieb in der Nähe der Tür stehen und sagte entschuldigend: "Es tut mir leid, aber ich bin heute allein hier."
"Das trifft sich gut", sagte er, und wunderte sich, was in ihn gefahren war, "ich bin auch allein hier!"
In dem fast grellen Licht, das von außen so unangenehm klinisch durch die Rollos gedrungen war, sah sich Kostedde die Frau genauer an. Er schätzte sie so auf Ende zwanzig, obwohl sie älter aussah. Sie war nicht eigentlich verblüht, sondern nur auf jene bulgarische Weise strapaziert, die es so schwer machte, das Alter zu schätzen. Die Gesichtshaut war vom Rauchen in Mitleidenschaft gezogen, trotzdem musste sie mal gut ausgesehen haben.
Er war auf einmal so schrecklich nervös, dass er sich fragte, ob es nicht wirklich besser war, einfach wieder zu gehen. Sein Schwanz fühlte sich an wie ein besoffener Zapfhahn. Den würde er heute Nacht unmöglich in Stellung bringen! Dann erinnerte er sich, dass in der Anzeige auch von Massagen die Rede gewesen war. Also fragte er, um Zeit zu gewinnen, was denn eine Massage koste. Eine Massage würde ihn vielleicht sogar doch noch genügend auf Touren bringen ... Plötzlich fühlte er, wie eine Art Sturheit ihn ritt. Obwohl seine Hände sich noch immer wie Eisblöcke anfühlten, gab er sich einen Ruck und sagte:
"Also gut ... Weißt du was, ich nehm eine Stunde und basta!"
Die Frau entschuldigte sich, sie müsse das Geld dann jetzt schon bekommen.
Warum entschuldigte sie sich schon wieder?
Kostedde spürte, dass er ihr fast etwas Tröstendes gesagt hätte. Als die Frau das Geld im gegenüberliegenden Raum abgeliefert hatte, in dem es verdächtig still war, ging sie in Richtung Regal und drückte sich mit ihrem ganzen nicht vorhandenen Körpergewicht dagegen. Das sah jetzt wirklich fast lustig aus, wie dies Wesen, das sich so schlaksig bewegte wie ein Schal, die ganze Regalwand wegzudrücken versuchte.
"Soll ich helfen?", fragte Kostedde.
"Neinnein", sagte sie, und da öffnete sich die Wand auch schon. Ein abgedunkelter Raum wurde sichtbar, in dem linker Hand ein nagelneues französisches Doppelbett stand. Eine kleine Sitzecke, ein Garderobenständer und sogar ein Stummer Diener, auf dem zwei Handtücher lagen, ergänzten das Mobiliar. Auf dem Boden befand sich ein Teppich, der alles andere als billig aussah. Unter der Heizung reihten sich einige Paare Gummischlappen für den Fall, dass der Kunde duschen wollte; vor allem aber war das eine dezente Einladung, die Straßenschuhe aus Bettnähe fernzuhalten, die in der Regel nach einem Gang durch das winterliche Sofia, in dem nicht gestreut und oft auch nicht geräumt wurde, bis oben voll Dreck waren.
Die Frau wies ihn lustlos auf alles das hin. Dann entschuldigte sie sich, sie müsse noch mal ins Bad. Kostedde dachte an Ess-Brechsucht, und dass es Leute wie er waren, die sie zum Kotzen brachten.
Während sie weg war, zog er sich langsam aus. Er machte sogar ein bisschen Gymnastik, um wärmer zu werden. Als die Frau zurückkam, hielt sie ihm ein Öfchen hin.
"Soll ich das anmachen?"
Nun waren nicht mehr ihre Augen, sondern ihr Mund unsicher. Kostedde nickte. "Dann muss ich nur das Licht hier ausmachen, wir haben keine Verteiler-Steckdose ..."
"Okay", sagte Kostedde, "da sehen wir nicht so genau, was wir machen. Ist vielleicht besser."
Es blieb so ein Schummerlicht. Das bekam dieser Frau gar nicht schlecht. Und wenn er richtig gehört hatte, war ihrem dünnlippigen Mund auf Grund seiner flapsigen Bemerkung gerade so etwas wie ein Kichern entschlüpft …
Als sie sich auszog, begann es. Ihre Haut vermählte sich mit den Flocken, die der Ventilator des Öfchens durch den Raum wirbelte, und wurde weich und samten. Ihr Po rundete sich. Die Fingerkuppen ihrer kleinen, kräftigen, aber nicht fleischigen Hände schienen seinen Schläfen eine sanfte Massage zu verabreichen, die ihn betäubte.
Er saß inzwischen auf der Ecke des Bettes. Er griff mit beiden Händen nach ihrer Taille. Er zog sie zu sich. Er zog sie so nah wie möglich zu sich. Er schloss die Augen. Er saugte langsam den Duft ihres Parfums ein. Er hatte das Gefühl, dass die Frau selbst dieses Parfum war. Nach einer unbestimmten Zahl von Sekunden beschlich ihn die Ahnung, dass eine neue Zeitrechnung eingesetzt hatte. Unter der Matratze hörte er es krachen in den Schweißnähten der Welt. Die Magnetfelder stöhnten unter den Strömen, die sich in der flüssigen Schicht unter der Kruste der Erde bewegten. Er begann, die Welt noch einmal ganz neu zu sehen, und zwar nicht mit den Augen, sondern mit der Haut.
Er rückte auf die Matratze zurück und sagte der Frau: "Setz dich zu mir." Aber da war sie schon. Er legte seinen Kopf an ihre Schulter und bat sie, ihn zu umarmen. Aber da befand sich ihr Arm schon um seinen Kopf. Er griff nach ihrem anderen Arm, um ... Aber da hatte die Hand des anderen Arms schon auf seinem Schulterblatt aufgesetzt. Davon hatte er gar nichts gemerkt! Das war ihm völlig unerklärlich. Er fühlte nur eines: dass dies der Moment war, der ihn heilte.
Seine ganze Verzweiflung, Unruhe und Nervosität waren weg. Seine Gedanken befanden sich einfach nicht mehr an den Orten, die ihn nervös machten, beunruhigten oder zur Verzweiflung brachten, sondern nur noch hier, im Halbdunkel dieser Matratzeninsel. Sie fühlten sich vollkommen aufgehoben im Handteller der Momente, die diese Frau ihm erfand. Seine Beine legte er um sie herum. Seine Hände streichelten ruhig und hoffnungslos verstört ihre Rippen. Seine Augen vertieften sich in den Anblick ihrer Brüste. Sie waren verschwindend klein, aber die Warzen waren kräftig und schön.
"Wie heißen die auf Bulgarisch", fragte er.
"Wie bitte?", fragte die Frau total überrascht.
"Na, die hier", sagte Kostedde und fasste die eine an. Da sah er zum ersten Mal, wie schamhaft sie war. Sie traute sich nicht mal, ihn anzuschauen.
"Beeren", sagte sie endlich.
Beeren. Er wühlte sein Gesicht an ihr Ohr und rieb sich an ihrer Wange. Beeren. Fast hätte er sie geküsst. Beeren, Beeren, Beeren. Sie wich nicht zurück.
"Du bist noch nicht lange hier, hm?", fragte er.
"Acht Tage", sagte sie.
"Was geschieht hier?", fragte er weiter und saugte tief die Luft ein, bis ins Mark irritiert, denn es roch nach Beeren.
"Ich weiß nicht", sagte sie, "angenehm ist mir."
Bevor das Seidenband dieses Momentes riss, fragte er: "Wie heißt du?"
"Albena", sagte sie.
"Albena. Und wenn dich einer kennt und gern hat, wie nennt er dich dann?"
"Wie bitte?"
"Ich meine, wie ist dein Spitzname."
"Benni."
Er schob seine Beine unter die ihren und hob sie auf sich. Er rieb seinen ganzen Körper an ihr. Sie begann zu stöhnen, hörte kurz damit auf, zog ihm in einer fast sorgfältigen Art das Gummi über, wie man einem unselbständigen Kind Socken anzieht. Und als wäre das die natürlichste Sache von der Welt, fragte er, während er sie aufs Bett warf und in sie eindrang:
"Du hast Kinder, nicht wahr?"
"Meinst du, ich wäre hier, wenn ich keine Kinder ernähren müsste?"
Dann löste sie sich völlig unter, über und in ihm auf. Er passte mit seinen Bewegungen instinktiv auf. Es war fast so, als hätte etwas in ihm die Handbremse der Verwunderung betätigt, damit er nicht in die Abgründe des Wunders stürzte. Vergeblich. Die Kraft dieser mageren und eben noch todmüden kleinen Frau riss ihn mit. Was war das für eine Glut, in der sie da aufloderte? Es war fast beängstigend. Sie packte ihn überall, zog ihn an sich, drängte sich in seine Umarmungen, küsste ihn ab, als wäre er ihr Baby, riss ihn aus den Verankerungen seiner Vorsicht, bis auch er sie Zentimeter über der Haut besprach mit Worten, die nicht mehr aus seinem Mund kamen, sondern aus seinem Schädel hervorbrachen wie Lava.
Als sie zusammen rauchten, passierte der schlimmste aller anzunehmenden Unglücksfälle. Sie bat ihn: "Erzähl mir was Lustiges."
Kostedde konnte alles, nur nicht erzählen. Das, was er zu erzählen hatte, lag ja noch vor ihm. Vielleicht war er deswegen so besessen davon, sich zu verlieren. Einen Moment sackte er in sich zusammen, weil jetzt alles aus war vielleicht. Aber es war nicht aus. Selbst ihm, dessen Leben sich nie zu Geschichten verband, sondern immer nur zu Momenten und den Bildern davon, selbst ihm passierten in diesem Land, das sich erzählend aus den Sümpfen der eigenen Wirklichkeit zog - selbst ihm widerfuhren hier kleine Geschichten. Er erzählte ihr, wie er wegen seiner mangelnden Sprachkenntnis einmal Kürbiskopf und Kürbiskuchen verwechselt hatte. Kürbiskopf ist ein volkstümlicher Ausdruck für Trottel, und er hatte sich einmal bei einer Frau, die ihn mit Kürbiskuchen bewirtet hatte, in Anwesenheit des Mannes für ihren wunderbaren Trottel bedankt ... Ihr Lachen drang durch den dicken Rauch ihrer Zigarette und klang auf einmal weder spröde noch unsicher.
Dann war die Stunde um.
Die Wirklichkeit knallte ihre Stahltür ins Schloss und erinnerte ihn daran, wo er war.
Dennoch tat er etwas, was man an Orten wie diesem nicht tut. Er holte einen Zettel aus seinem Portemonnaie, schrieb seinen Namen und einige Ziffern darauf und sagte:
"Das ist meine Telefonnummer. Bitte, wenn irgendwas ist, mit dir oder mit deinen Kindern - ruf mich an." Er überlegte kurz. "Nein, auch wenn gar nichts ist ..."
Albena überlegte hörbar.
"Dienstag", sagte sie, "Dienstag ruf ich dich an."