Texte
Am Erker 51, Münster, Mai 2006
 

Steffen Roye
Nichts ist vorbereitet

Ein Foto liegt vor mir auf dem Tisch und beschäftigt mich mehr als mir lieb ist. Der Tag ist schon auf dem Rückzug, und morgen kommt das Rote Kreuz und holt alles ab: eine Biographie in Möbeln. Ich habe noch einmal alle Hände voll zu tun, dann wird das Buch zugeklappt. Das Schlusskapitel war die Urnenbeisetzung vor zwei Wochen, und der Epilog, die letzte Nacht im Haus meiner Kindheit, handelt von Archivierung, Auskehr und Entsorgung.
Ich lege einige Briketts nach; auch das ein letztes Mal, wie so vieles in diesen Tagen. Zurück am Tisch, widme ich mich wieder dem Foto. Die Tischfläche ist überstreut mit alten Aufnahmen, viele schwarzweiß, manche unscharf, belangloser Zement, ohne klare Motive und Komposition, die Botschaften abhanden gekommen, ausgelaufen wie kaputte Milchtüten. Doch dieses eine Foto hält mich fest. Ich kann von Glück reden, dass ich diese ganzen Erinnerungen überhaupt aufgebahrt habe, auf der Suche nach nichts, nach einigen vergilbten Sentimentalitäten für die eigenen Fotoalben vielleicht, die irgendwann ebenso unverstanden entsorgt werden.
Aber kann ich wirklich von Glück reden?
Ein Foto nur. Mutter ist darauf. Die Frisur verrät, dass das Bild aus der Zeit meiner frühen Kindheit oder gar vor meiner Geburt stammen muss. Ich bin nicht zu sehen, auch Vater nicht, obwohl sie zu jener Zeit schon ein paar Jahre verheiratet gewesen sein mussten. Der Mann auf dem Bild sieht eher wie ein Italiener aus, die schwarzen Haare wie ein ruhiges Meer. Er steht hinter ihr und schließt die Arme um sie, Zeigefinger und Daumen wie versehentlich auf ihren Brüsten geparkt. Mutter schaut halb nach hinten zu ihm auf, ein Seitenlicht lässt sie wie eine Filmdiva erscheinen.
Was soll das bedeuten? Wer ist der Kerl? Kannte Vater diesen Mann? Kannte er das Foto?
Ich suche weiter, durchpflüge den Papieracker wie eine Wühlmaus, suche mit fahrigen Fingern nach Referenzen. Mutter musste noch mehr Fotos von einem Kerl haben, von dem sie sich so einfach befingern ließ. Eine Urlaubsfreundschaft jedenfalls sieht anders aus.
Der Harz. Die See. Die Tante aus Berlin, die ich nur aus Erzählungen kenne. Unser Haus. Zu jeder Jahreszeit. Ich im Garten. Ich mit Eltern. Ich, schon größer und nur noch mit Mutter, der Vater fehlt sichtbar, als hätte er sich ausgeschnitten und den Schatten vergessen. Je größer ich wurde, desto entbehrlicher wurde er, desto kleiner das Loch, und auf den Fotos, auf denen ich zehn bin, lächelt wieder eine komplette Familie vom Papier: Mutter und ich.
Für einen Italiener war zu keinem Zeitpunkt Platz auf den Fotos. Wie hatte er sich trotzdem vor die Linse geschlichen?
Ich finde ein Foto: Mutter hält mich auf dem Arm, ich bin verpackt wie eine Mumie und schlafe, und sie trägt dasselbe Kleid wie auf dem Italienerfoto. Und hier, noch eins! Ich habe mich nicht getäuscht in der Zeit. Ansonsten: nichts. Kein Hinweis. Keine Schatten am Bildrand, keine weiteren Fotos.
Was kann mir diese eine Aufnahme verraten? Sie zeigt nicht, was davor und was danach geschah. Eine Tür öffnet sich für einen Augenblick, für 1/90 Sekunde vermutlich, sie öffnet und schließt sich. Augenblick, verweile doch. Mit Blende 8.
Ich starre auf die beiden, als könne ich die Erklärung für alles aus dem Fotopapier ziehen. Warum hat sie diese Beziehung, flüchtig oder von Dauer, vor mir geheimgehalten? Sicher, es gab eine Zeit, in der es unmöglich war, solche Dinge zur Sprache zu bringen. Aber in den letzten Jahren war unser Verhältnis gut. Von einem Italiener war nie die Rede.
War er unbedeutend? Warum ließ sie sich dann beim Begrabschen fotografieren? Mutter hielt nichts von Affären. Nach Vaters Weggang blieb kein Mann über Nacht in unserem Haus.
Und von wem ließ sie sich fotografieren? Wer wusste von diesen Daumen und diesen Zeigefingern, die das Terrain sondierten und den Weg für die anderen Finger ebnen sollten? Ich stelle fest, dass ich über meine Mutter so wenig wie über Vater weiß.
Vielleicht gibt es Briefe. Ich durchwühle die Schubladen, werde hektisch, als müsse ich jeden Moment mit Mutters Rückkehr rechnen und wolle mich nicht erwischen lassen, wie ich angelegentlich in ihren Privatdingen stöbere.
Jede Menge Plunder kommt ans Licht, Erinnerungskitsch von Urlaubsreisen vor allem. In der untersten Schublade, hinter Bilderrahmen und gebrauchtem Geschenkpapier, finde ich schließlich, wonach ich suche: lose und locker hingestreut liegen Kuverts mit unterschiedlichen Handschriften.
Die nächste Stunde bin ich damit beschäftigt, meinen Fund auszuwerten. Post von Schulfreundinnen ist es vor allem, ich kenne keine einzige. Dazu ein paar knappe Mitteilungen von Vater, ungelenk und im Bemühen um Aufmerksamkeit, unsicher und voller Klischees, und doch muss sie sie rührend gefunden haben, vielleicht waren es die einzigen Liebesbriefe, die sie jemals bekommen hat. Dann gibt es noch ein paar Briefe von einem Inder, auf eine Zeit lange vor meiner Geburt datiert, aber es geht daraus hervor, dass die beiden sich niemals sahen; auch fallen Passfotos aus einem der Kuverts, die keine Zweifel lassen.
Draußen ist es inzwischen Nacht, und ich bin keinen Schritt weiter. Was soll ich jetzt mit den Bildern machen? Mitnehmen und versuchen, das Puzzle zu lösen? Oder alles wegwerfen? Und das Italienerfoto? Wie viel hat es mit mir zu tun?
Ich spiele nervös mit meinen Locken und starre auf den Fremden. Er lächelt mich an und lässt Daumen und Zeigefinger kreisen. Ein Augenblick, und wer weiß heute noch, wie viel außerdem geschah? Papier ist geduldig, heißt es. Der Fremde lächelt und fingert, und Mutter himmelt ihn an, einen Wimpernschlag lang himmelte sie ihn vor der Kamera an und danach ein ganzes Leben in ihrer Erinnerungsschublade, und jetzt ist das Fingern und Anhimmeln wieder in der Welt, und ich sitze ratlos vor einem überschwemmten Tisch, und morgen kommt das Rote Kreuz, und nichts ist vorbereitet.