Steffen Roye
Ein Foto liegt vor mir auf dem Tisch und beschäftigt
mich mehr als mir lieb ist. Der Tag ist schon auf dem Rückzug,
und morgen kommt das Rote Kreuz und holt alles ab: eine Biographie
in Möbeln. Ich habe noch einmal alle Hände voll zu tun,
dann wird das Buch zugeklappt. Das Schlusskapitel war die Urnenbeisetzung
vor zwei Wochen, und der Epilog, die letzte Nacht im Haus meiner
Kindheit, handelt von Archivierung, Auskehr und Entsorgung.
Ich lege einige Briketts nach; auch das ein letztes Mal, wie so
vieles in diesen Tagen. Zurück am Tisch, widme ich mich wieder
dem Foto. Die Tischfläche ist überstreut mit alten Aufnahmen,
viele schwarzweiß, manche unscharf, belangloser Zement,
ohne klare Motive und Komposition, die Botschaften abhanden gekommen,
ausgelaufen wie kaputte Milchtüten. Doch dieses eine Foto
hält mich fest. Ich kann von Glück reden, dass ich diese
ganzen Erinnerungen überhaupt aufgebahrt habe, auf der Suche
nach nichts, nach einigen vergilbten Sentimentalitäten für
die eigenen Fotoalben vielleicht, die irgendwann ebenso unverstanden
entsorgt werden.
Aber kann ich wirklich von Glück reden?
Ein Foto nur. Mutter ist darauf. Die Frisur verrät, dass
das Bild aus der Zeit meiner frühen Kindheit oder gar vor
meiner Geburt stammen muss. Ich bin nicht zu sehen, auch Vater
nicht, obwohl sie zu jener Zeit schon ein paar Jahre verheiratet
gewesen sein mussten. Der Mann auf dem Bild sieht eher wie ein
Italiener aus, die schwarzen Haare wie ein ruhiges Meer. Er steht
hinter ihr und schließt die Arme um sie, Zeigefinger und
Daumen wie versehentlich auf ihren Brüsten geparkt. Mutter
schaut halb nach hinten zu ihm auf, ein Seitenlicht lässt
sie wie eine Filmdiva erscheinen.
Was soll das bedeuten? Wer ist der Kerl? Kannte Vater diesen Mann?
Kannte er das Foto?
Ich suche weiter, durchpflüge den Papieracker wie eine Wühlmaus,
suche mit fahrigen Fingern nach Referenzen. Mutter musste noch
mehr Fotos von einem Kerl haben, von dem sie sich so einfach befingern
ließ. Eine Urlaubsfreundschaft jedenfalls sieht anders aus.
Der Harz. Die See. Die Tante aus Berlin, die ich nur aus Erzählungen
kenne. Unser Haus. Zu jeder Jahreszeit. Ich im Garten. Ich mit
Eltern. Ich, schon größer und nur noch mit Mutter,
der Vater fehlt sichtbar, als hätte er sich ausgeschnitten
und den Schatten vergessen. Je größer ich wurde, desto
entbehrlicher wurde er, desto kleiner das Loch, und auf den Fotos,
auf denen ich zehn bin, lächelt wieder eine komplette Familie
vom Papier: Mutter und ich.
Für einen Italiener war zu keinem Zeitpunkt Platz auf den
Fotos. Wie hatte er sich trotzdem vor die Linse geschlichen?
Ich finde ein Foto: Mutter hält mich auf dem Arm, ich bin
verpackt wie eine Mumie und schlafe, und sie trägt dasselbe
Kleid wie auf dem Italienerfoto. Und hier, noch eins! Ich habe
mich nicht getäuscht in der Zeit. Ansonsten: nichts. Kein
Hinweis. Keine Schatten am Bildrand, keine weiteren Fotos.
Was kann mir diese eine Aufnahme verraten? Sie zeigt nicht, was
davor und was danach geschah. Eine Tür öffnet sich für
einen Augenblick, für 1/90 Sekunde vermutlich, sie öffnet
und schließt sich. Augenblick, verweile doch. Mit Blende
8.
Ich starre auf die beiden, als könne ich die Erklärung
für alles aus dem Fotopapier ziehen. Warum hat sie diese
Beziehung, flüchtig oder von Dauer, vor mir geheimgehalten?
Sicher, es gab eine Zeit, in der es unmöglich war, solche
Dinge zur Sprache zu bringen. Aber in den letzten Jahren war unser
Verhältnis gut. Von einem Italiener war nie die Rede.
War er unbedeutend? Warum ließ sie sich dann beim Begrabschen
fotografieren? Mutter hielt nichts von Affären. Nach Vaters
Weggang blieb kein Mann über Nacht in unserem Haus.
Und von wem ließ sie sich fotografieren? Wer wusste von
diesen Daumen und diesen Zeigefingern, die das Terrain sondierten
und den Weg für die anderen Finger ebnen sollten? Ich stelle
fest, dass ich über meine Mutter so wenig wie über Vater
weiß.
Vielleicht gibt es Briefe. Ich durchwühle die Schubladen,
werde hektisch, als müsse ich jeden Moment mit Mutters Rückkehr
rechnen und wolle mich nicht erwischen lassen, wie ich angelegentlich
in ihren Privatdingen stöbere.
Jede Menge Plunder kommt ans Licht, Erinnerungskitsch von Urlaubsreisen
vor allem. In der untersten Schublade, hinter Bilderrahmen und
gebrauchtem Geschenkpapier, finde ich schließlich, wonach
ich suche: lose und locker hingestreut liegen Kuverts mit unterschiedlichen
Handschriften.
Die nächste Stunde bin ich damit beschäftigt, meinen
Fund auszuwerten. Post von Schulfreundinnen ist es vor allem,
ich kenne keine einzige. Dazu ein paar knappe Mitteilungen von
Vater, ungelenk und im Bemühen um Aufmerksamkeit, unsicher
und voller Klischees, und doch muss sie sie rührend gefunden
haben, vielleicht waren es die einzigen Liebesbriefe, die sie
jemals bekommen hat. Dann gibt es noch ein paar Briefe von einem
Inder, auf eine Zeit lange vor meiner Geburt datiert, aber es
geht daraus hervor, dass die beiden sich niemals sahen; auch fallen
Passfotos aus einem der Kuverts, die keine Zweifel lassen.
Draußen ist es inzwischen Nacht, und ich bin keinen Schritt
weiter. Was soll ich jetzt mit den Bildern machen? Mitnehmen und
versuchen, das Puzzle zu lösen? Oder alles wegwerfen? Und
das Italienerfoto? Wie viel hat es mit mir zu tun?
Ich spiele nervös mit meinen Locken und starre auf den Fremden.
Er lächelt mich an und lässt Daumen und Zeigefinger
kreisen. Ein Augenblick, und wer weiß heute noch, wie viel
außerdem geschah? Papier ist geduldig, heißt es. Der
Fremde lächelt und fingert, und Mutter himmelt ihn an, einen
Wimpernschlag lang himmelte sie ihn vor der Kamera an und danach
ein ganzes Leben in ihrer Erinnerungsschublade, und jetzt ist
das Fingern und Anhimmeln wieder in der Welt, und ich sitze ratlos
vor einem überschwemmten Tisch, und morgen kommt das Rote
Kreuz, und nichts ist vorbereitet.
|