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               Tanja Dückers 
                 
              Kennen Sie Pößneck? Keine Sorge, ich 
                bis vor Kurzem auch nicht. Einmal erhielt ich jedoch eine Einladung 
                zu einer Lesung in diesem Pößneck. Der Rahmen schien 
                interessant, das Honorar stimmte und der Zusatz "liegt in 
                Thüringen" ließ keine allzu ewige Fahrt vermuten 
                - und der Veranstalter versprach, pünktlich um 19.05 am Bahnhof 
                zu sein. Wunderbar, Schokoriegel und Lektüre eingepackt, 
                und ab mit der Bahn.  
                Ich kam zwar nicht um 19.05 Uhr in Pößneck an, sondern 
                um 19.45 Uhr - für zwei Lokschäden und einen "Stellwerkschaden" 
                fand ich vierzig Minuten Verspätung jedoch noch sehr akzeptabel, 
                meine Laune war also kaum getrübt. Zum Glück hatte man 
                mir seitens des Veranstalters per SMS bestätigt, daß 
                man auf dem Bahnsteig auf mich warten würde.  
                Der Bahnsteig in Pößneck entpuppte sich als ein nicht-überdachter 
                Bretterverschlag an einer Schnellstraße. Es schneite. Es 
                hagelte. Es graupelte. Es war schneidend kalt. Ich blickte mich 
                um. Weit und breit war niemand auf dem "Bahnsteig", 
                der so aussah - Lodenmantel, Nickelbrille, Rollkragen - wie Literaturveranstalter 
                gemeinhin so aussehen. Denn wie wir alle wissen: Klischees gibt 
                es nicht schließlich umsonst. Im Gegenteil: Sicher leiten 
                sie einen durch den zwielichten Dschungel des Daseins, besonders 
                auf Reisen und in der Fremde.  
                Ich griff zum Handy. Selten habe ich meine frühere Ablehnung 
                der Mobiltelekommunikation so unverständlich gefunden wie 
                in diesem Moment, wo LKW-Fahrer von der Schnellstraße an 
                den Randstreifen fuhren, mich von oben aus ihren Fahrerkabinen 
                mit blitzenden Goldzähnen anlächelten und zweideutige 
                Gesten machten. Da stand ich in meinem roten Mantel, mit hochgesteckten 
                Haaren und den neuen Ohrringen; Hagelkörner fielen dutzendweise 
                auf meinem Kopf. 
                Es wurde dunkler. Es schneite stärker. Ich guckte zu, wie 
                die Schneeflocken auf meinem Mantel viele kleine Pfützen 
                bildeten. Wie die Pfützen miteinander verschmolzen und in 
                ein großes, rotes Meer zusammenflossen. Meine Lesung würde 
                genau jetzt anfangen. Endlich klingelte mein Handy: "Wo-sind-Sie-denn, 
                Frau Dückers?" 
                Auch auf Stimmen treffen oft Klischees zu. Diese war jungenhaft, 
                nervös und hoch - und doch würde sie zu einem Mittvierziger 
                mit Lodenmantel gehören. 
                Nun erfuhr ich von dieser gehetzten hellen Stimme, daß ich 
                am Nordbahnhof statt am Südbahnhof stehen würde.  
                "Ich hab vergessen, Ihnen das zu sagen, tut mir leid ... 
                in fünfzehn Minuten bin ich bei Ihnen!" Sprach's 
                und legte auf.  
                Nach dieser überraschenden Erweiterung meines geographischen 
                Horizonts - Pößneck in Thüringen hat zwei Bahnhöfe! 
                - sollten jedoch noch weitere denkwürdige und des schriftlichen 
                Festhaltens würdige Lese-Reisen mit der Deutschen Bahn folgen: 
                 
                Für meine nächste Lesung hatte ich praktischerweise 
                meine Karten telefonisch vorreserviert. Besser als die stets überfüllte 
                Schlange am "Express-Schalter" am Ostbahnhof, hatte 
                ich mir gedacht.  
                Als der Schaffner die Karten kontrollierte, las ich weiter friedlich 
                in meinem Buch.  
                "Da ham Se aba falsche Kaaten", wurde ich angeraunzt. 
                Ich schaute aus meiner Szymborska-Lektüre auf, eine Welt 
                stiller und geheimnisvoll leuchtender Gedichte hinter mir lassend. 
                Die Worte "Dit Daatum is vakeehrt. Heute is der 24.!" 
                katapultierten mich wieder ins das Hier und Jetzt meiner Lesungsreise. 
                Ich guckte auf mein Ticket. Der Urberliner mit dem Faible für 
                kurze und klare Sätzen hatte recht: Die elektronische Kartenverkäuferin 
                hatte mir mein Ticket für den falschen Tag ausgestellt. Ich 
                hatte aber, meinen Kalender direkt vor mir, bestimmt das richtige 
                Datum genannt. Außerdem bin ich, was Geld, Zahlen und Fakten 
                angeht, grundsätzlich schrecklich pingelig. Als ich freundlich 
                versuchte, den Sachverhalt zu erklären - vielleicht in einer 
                noch von der Lyrik der Szymborska gefärbten, etwas zu poetischen 
                und daher für den Schaffner irgendwie provozierenden, lächerlichen 
                Sprache - wurde ich angeherrscht: "Wollen Se mich va-arschen? 
                Wir sind hier nich uffm orientalischen Basar! Dat könnense 
                bei denen vasuchen, mich übas Ohr zu hauen, ja, uffm orientalischen 
                Basar, da jehörn Se hin! Aba hier bei de Bahn müssen 
                Se `n neues Ticket kofen! Und zwar sofoart."  
                Und ich wurde - was mir natürlich kein Veranstalter erstattete 
                - doppelt abkassiert.  
                Der von der Bahn für solche Fälle wärmstens empfohlene 
                "Kundendialog" beschied mir nur: "Leider können 
                wir nicht mehr rückverfolgen, bei welcher Dame Sie das Ticket 
                bestellt haben. Da sind Sie dann selbst für verantwortlich." 
                Diese Zugfahrt war zwar von ungerechter Kapitalaneignung seitens 
                der Deutschen Bahn gesprägt, aber den Verlust vom schnöden 
                Mammon kann man sicherlich noch eher verkraften als menschliche 
                Verluste oder Dramen: 
                Einmal saß ich im ICE, als eine ältere Frau aufgeregt 
                auf mich zustürmte: "Ach, Sie erkenne ich doch ... seitdem 
                mein Sohn Ihren komischen Roman gelesen hat ... diese ... 'Spielwiese' 
                ... 'Spielwiese' heißt der doch ... also seitdem ... ", 
                ihre Stimme wurde leiser und nahm einen drohenden Klang an: "ist-er-bisexuell!" 
                 
                Gutmütig wie ich bin, bestellte ich der aufgebrachten Dame 
                einen Kaffee und erklärte ihr, warum, selbst für den 
                Fall, dass ihr Sohn sich als homosexuell outen würde, die 
                Welt noch die Welt und Kaffee noch Kaffee bleiben würde. 
                Doch kaum hatte die Dame mich plötzlich ins Herz geschlossen, 
                hielt der Wagen mit einem krachenden Rumpeln sehr abrupt an. Eine 
                Weile lang passierte nichts. Dann ertönte über den Lautsprecher: 
                "Leider haben wir einen Personenschaden. Weiterfahrt vorerst 
                unmöglich." Da fasste mich die Dame am Arm und murmelte: 
                "Das ist heute schon der zweite Selbstmord, immer an den 
                Adventssonntagen springen die jungen Leute alle vor die Bahn. 
                Die Jungen wollen heute nicht mehr leben. Entweder sie sind lebensmüde 
                oder kriegen keine Kinder mehr, weil sie schwul sind. So ist das. 
                Bekomme ich noch Ihr Autogramm?" 
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