Texte
Am Erker 47, Münster, Juni 2004
 

Hans Dieter Schäfer
Berliner Aufzeichnungen

11. 9. 1980 Auf dem Platz vor dem PALAST DER REPUBLIK wenig Menschen im Vergleich zu seiner Größe, unten an der Treppe eine Pachttoilette "Benutzung 0,10. Ehrenurkunde für die erfolgreiche Teilnahme am ND-GASTSTÄTTENWETTBEWERB 1979 in Berlin, Hauptstadt der DDR". Das Universitätsviertel, trübe, breite Straßen, kaum Autos und Passanten. DIE IM WINDE KLIRRENDEN FAHNEN. Vor einem Studentenheim werden aus einem LKW mit der Aufschrift HUMBOLDT UNIVERSITÄT mehrere Paletten Schnapskartons ausgeladen. Durch die beleuchtete Vorhalle des METROPOL-Hotels Araber im Gänsemarsch mit Plastiktüten in der Rechten, ein Traktor zieht Kulissen auf Rollen zur Staatsoper, davor ein Möbelwagen, mit Kreide TOSCA, 1. BILD. Leere Straßenbahnen. (...)

12. 9. 1980 Im AXEL-SPRINGER-HAUS zeigt mir ein Redakteur der WELT die Privaträume, die im 18. Stock liegen. Lediglich im Speisezimmer für zehn Personen stimmen die Proportionen, für die beiden Empfangsräume wirken die Decken zu niedrig, die Holzvertäfelung wurde aus dem TIMES-Haus herausgebrochen, hinterm Konferenztisch ein Ölporträt Friedrichs des Großen. Als Rauchtisch dient eine preußische Trommel mit anmontiertem Schlegel, die Aschenbecher sind mit Kettchen gesichert. "Es wird viel gestohlen", erklärt der Mann. "Beim letzten Empfang des BUNDESVERBANDES DER DEUTSCHEN INDUSTRIE verschwanden sechs antike Aschenbecher und eine Kleinplastik von Barlach." Wir schauen aus einem Fenster Richtung Alexanderplatz, die Sonne erzeugt auf der Kugel des Fernsehturms ein Lichtkreuz, der Redakteur läßt sich über die magere Rushhour der TRABBIS und WARTBURGS aus und reißt einen Witz, die Tür zu den Schlafräumen öffnet er nicht, sagt nur: "Einfach, sehr einfach."

1913
(...) Bei Einladungen zum Hausball war ich nicht gezwungen, wie gewöhnlich die Gäste zu begrüßen, dabei hätte es mir gefallen, die Paare für wenige Sekunden zu mustern. "Bevor sie kommen", rief die Mutter, "mußt du noch zu Vater und Guten Nacht sagen". Er saß in seinem Arbeitszimmer, mit Aushorchungen beschäftigt, umringt von Gesetzen, Berichten, Umfragen, diesmal aber in feinerer Rüstung mit einer weißen Nelke im Knopfloch als Ball-Signal. Während die Autos ihre Lichtkegel auf unsere Front warfen, wunderte ich mich, daß der Vater vor den wie mit Schlamm gefüllten Fenstern zurückwich, zurück schwankte, so etwa wie wir, des Schwindelgefühls wegen, beim Einfahren der U-Bahn reflexartig einen Schritt nach hinten treten. Ich schlenderte in mein Zimmer. Es ging auf 19 Uhr zu, und der Gästestrom wurde dichter. Schon flitzten die Mädchen mit den Hors-d'oeuvre-Platten durch den Flur. An mein Ohr drangen zufallsweise und in größeren Abständen Geräusche, zwischen denen keine Beziehung bestand � hier ein Tuscheln beim Glätten von Geschenkpapier, dort die Stimme einer älteren Dame, die ich vor Jahren schon ein- oder zweimal durch die Wohnung "Puppchen" hatte rufen hören. Wenn ich später auf Zehenspitzen nach draußen schlich und einen Spalt der Tür zum Salon aufmachte, bewegten sich blonde Frisuren, wie zu Sorbet gefroren, neben dem Schwarz-Weiß der Herren � vollkommen, ohne Fehler, mit dem Prunk alter, zu nichts mehr verpflichtender Formen. Lüster ließen eine Ordensschnalle hervortreten, Schmuck auf Bögen nackter Haut oder die zweifarbigen Uniformen der Kavallerieleutnants, die lange in Blöcken beieinander gestanden waren, bis sie sich auseinanderschoben, um vor den Damen ihre Verbeugungen zu machen. Es hatte beinahe den Anschein, als wäre der Tanz eine andere Form von Wahnsinn, und als würden die Offiziere hinaus auf das Parkett getrieben, um sich von einem unerträglichen seelischen Druck zu befreien, der sich ständig von neuem einstellte. Während Blumenbouquets an den Wänden wie auseinandergewehte Seifenflocken schäumten, hielt das Schleifen der Kleider bis eine Stunde nach Mitternacht an, dann zogen sich die Geräusche über das Treppenhaus in die Samtfauteuils der Automobile zurück, schließlich meldeten sich aus dem Hof zwei Eulen, sie saßen auf der Birke, und für Augenblicke glich ihr Schnauben dem Ächzen des Großvaters, der am Rauchtisch mit offenem Mund vor einer Karaffe Rotwein eingeschlafen war. Vom Balkon aus konnte man beobachten, wie sich die Fahrzeuge noch eine Weile unter den Bäumen des gegenüberliegenden Ufers durch stumpf gewordene Lichterschlangen bemerkbar machten, dann verschwanden auch sie. Zum ersten Mal kam mir zum Bewußtsein, daß wir in uns selbst eingekerkert sind, nicht ohne Verlangen, dieses Vakuum aufzufüllen. Unten vorm Haus lag zwischen den Ritzen der Pflastersteine schmutziges Eis. Der Himmel über dem Tiergarten atmete arktisch klar, der Mond nahm zu, und selbst die ewigen Sterne hatten keine Scheu, ihre Position zu verändern. Ich wärmte meine durchfrorenen Finger, während neben der Straßenlampe ein Kastenwagen mit Verdeck stand wie der Trümmerrest einer Armee, die nach dem Ende der Ballnacht weitergezogen war.