Solidarisches Erzählen
Andreas Heckmann
Es ist mutig, in dieser lauten Zeit Töne anzuschlagen, die so leise sind, dass sie womöglich überhört werden. Lorena Simmel hat das in ihrem Debüt Ferymont getan und erzählt mit teils autofiktionalen Zügen von einem Sommer im Seeland, dem Zentrum des Schweizer Gemüseanbaus im Norden des Kantons Bern, wo auch Biel und seine Uhrenindustrie liegen, und weiter im Westen, im Berner Jura, St. Imier, wo Cyril Schäublin seinen wunderbar stillen Uhrmacher-Anarchisten-Film Unruh (2022), im 19. Jahrhundert angesiedelt, gedreht hat.
Lorena Simmel, 1988 in Fribourg geboren, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne studiert, danach Komparatistik an der Humboldt Uni und in Warschau. Um ihre Finanzen aufzubessern, ist sie für eine lange Saison aus Berlin ins Seeland zurückgekehrt, in das fiktive Dorf Ferymont, wo die Erzählerin als Erntehelferin den doppelten Stundenlohn bekommt als für saisonale Tätigkeiten in Deutschland. Bei der Arbeit auf Erdbeer-, Spargel- und Tabakfeldern lernt sie Erntehelfer:innen aus Ost- und Südosteuropa kennen, darunter drei moldawische Schwestern und einen polnischen Kleinhändler. Zupass kommen ihr dabei ihre Kenntnisse slawischer und romanischer Sprachen, wobei das Deutsche Lingua franca auf den Feldern ist und von vielen der dort seit Jahren in den Sommermonaten Arbeitenden gut beherrscht wird.
In Edit 89/90 hat Simmel 2023 den Essay "Über solidarisches Erzählen" veröffentlicht, der für eine Literatur eintritt, in der die Erzählstimme zwar "ich" sagt, aber nicht die eigene Individualität zum Funkeln bringt, sich nicht an den Klimmzügen der eigenen Wahrnehmung delektiert, sondern sich als Spiegel auch der Wahrnehmungen, Gefühle und Triebkräfte anderer begreift. Ihr schwebt ein mitfühlendes Erzählen vor, das indes nichts Sentimentales hat, sondern denen eine Stimme gibt, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihr Leben literarisch darzustellen. Beim Schreiben mehr als die eigene Perspektive im Kopf zu haben und "aus dem Gefängnis des eigenen Ichs auszubrechen", diesen Gedanken entwickelt Simmel im Anschluss an Überlegungen der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tocarczuk und des aus dem oberschlesischen Opole stammenden Matthias Nawrat. Sie will eine "allzu individualisierte Perspektive" überwinden und "eine allgemeinere Sichtweise zum Ausdruck" bringen, "die ebenso eine andere wie die eigene Sichtweise berücksichtigt, empathisch wäre, 'zärtlich', wie Tokarczuk schreibt, solidarisch". Außerdem, so Simmel, "fühlte ich, dass sich ein Roman, der sich mit der Thematik der Arbeitsmigration sowie mit den Geschichten von Menschen beschäftigte, die Jahr für Jahr ihr Zuhause verließen, um in den westeuropäischen Ländern oft gefährliche und schlecht bezahlte Arbeit zu verrichten, nicht (bloß) um irgendein 'Selbst' drehen durfte." Dass sich "Ich" und "Du" auflösen, "um zu etwas Allgemeingültigerem zu werden", sei es wohl, "was Olga Tocarczuk mit einer 'Erzählperspektive in vierter Person' oder Matthias Nawrat mit einem 'Ich als Durchgang zu den Anderen' meinen: die 'Seele' eines Textes, ein Schreiben, das sich auf einer 'Sorge um die anderen', wie Didier Eribon schreibt, gründet".
Es ist ein unaufgeregtes, sehr genau beobachtendes und doch lakonisches, mitunter aber unvermutet ins Poetische umschlagendes Erzählen, das Lorena Simmel sich für ihren ersten Roman erarbeitet hat. Ihre Protagonistin lernt diese ernsten Arbeitsmigrant:innen kennen und schätzen, die den Verdienst nach Hause überweisen, ein spartanisches Leben führen und daheim noch eine zweite familiäre und berufliche Identität haben. Und sie erlebt eine praktische Solidarität unter den Erntehelfern, die als selbstverständlich beschrieben wird, ohne im Mindesten selbstverständlich zu sein. Zu den Schönheiten des Romans gehören auch die in den Vorhöfen der Möglichkeit einer Affäre verbleibende Begegnung mit einem viel älteren Erntearbeiter, dessen familiäre Bindungen in Polen in den Text gewoben werden, und die Schwierigkeiten, "nebenher" an der Université de Neuchâtel erfolgreich ein komparatistisches Seminar zu besuchen. Hier scheint die akademische Welt in den Text wie andernorts die bürgerliche Welt der Tante, bei der die Erzählerin wohnt, was sie den übrigen Erntehelfer:innen gegenüber natürlich privilegiert.
Ferymont ist ein Buch über die Arbeit und die, die sie tun, und solche Bücher sind schwer zu schreiben. Lorena Simmel kann's. Die Freundin Daria berichtet der Erzählerin, "Saisonarbeitende seien nicht besonders heldenhaft" und würden "kein Material für neue Geschichten hergeben", "da sie – eher als zu den Abenteurern – zu den Stubenhockern gehörten, dass sie sich wie Festangestellte verhielten und ihr Sinn, ähnlich dem der meisten Leute, auf Häuslichkeit gerichtet sei. Darias Zuhause zumindest sei überall um sie, in der Aufbereitungsscheune, in den Spinden, den wasserfesten Feldrucksäcken, auf dem Feld selbst und dort, wo sie Pause mache. So sei auch ihre Familie immer um sie: ihre Mutter, ihre Schwestern, ihr Mann und ihre Tochter. Eine Erntemaschine gleiche ziemlich jeder anderen, und die Saisonarbeitenden, egal, welche es gerade seien, schienen immer dieselben, wie Figuren aus einer lang bekannten Geschichte, auch wenn sie natürlich wisse, dass jeder Mensch einzigartig sei. In dieser Umgebung, sagte Daria, zögen die fremden Waldränder, die Gesichter der Vorgesetzten und die Unendlichkeit des Sommers oft an ihr vorbei, umhüllt oder belebt nicht von einem Geheimnis, sondern von Mattheit und träger Wiederholung. 'Vielleicht stimmt das auch alles nicht', sagte sie. 'Aber jedenfalls solltest du vielleicht besser über etwas anderes schreiben.' – Daria war, wie ich in dem Moment dachte, genauso alt wie ich, aber sie hatte einen Beruf, war schon schwanger gewesen und hatte ein Kind zur Welt gebracht, das jetzt vier Jahre alt war, eine Zeitspanne, die ich in Berlin mit Studieren, Arbeiten, Reisen und ein paar Schreibversuchen zugebracht hatte."
Dass das solidarische Erzählen auch der Tierwelt gelten kann, zeigt sich gegen Ende in der wohl eindringlichsten Schilderung ihres Buchs: Für fürstliche fünfzig Franken pro Stunde werden acht Erntehelfer:innen für das Einsammeln von in Bodenhaltung gefangenen Hühnern eingesetzt, darunter die Erzählerin. Es ist atemberaubend, mit welch nüchterner Empathie beschrieben wird, wie sie sich als Phalanx langsam über den eingekoteten Boden schieben, ein Huhn nach dem anderen an den Beinen packen und sie mit elf weiteren Hühnern in Transportkäfige mit dem Ziel Schlachthof setzen. Es liegt eine bleierne Stille und beklemmende Routine über der Szene, es fällt kein anklagendes Wort, und doch vermittelt sich der Eindruck, einer Barbarei beizuwohnen, von der sich die Erzählerin nicht ausnimmt.
"Besuchen Sie das Seeland, es wird Ihnen gefallen", hat Lorena Simmel mir nach der Präsentation ihres Romans Anfang Februar im ausverkauften Berliner Brecht-Haus – am Vormittag war nebenan auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof Elke Erb beerdigt worden – in mein Besprechungsexemplar geschrieben. Tatsächlich habe ich gleich nach meiner Rückkehr nach München meine noch von Jochen Greven besorgte, in moosgrünes Leinen gebundene Suhrkamp Taschenbuchausgabe der Werke Robert Walsers konsultiert, Band III, S. 131ff: Seeland (1919).
Auch Walser, geboren 1878 in Biel, hat "ich" gesagt, und doch war da kein Ich im Sinne einer Selbstbehauptung und -begründung um den Preis der Verpanzerung. Auch die Prosa Walsers meint, wenn sie "ich" sagt, so viel mehr als Ich. Dass sein Erzählen ein 'solidarisches' ist, mag man mit guten Gründen bezweifeln, aber es stiftet eine Durchlässigkeit, eine Leichtigkeit und Freude, eine Intensität, ein In-der-Welt-Sein und darin eine Ich-Überwindung eigener Art. Sie sind sich am Ende womöglich nicht gar so fern, der große Robert Walser und die großartige Lorena Simmel. |