Am Erker 82

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle

 
Rezensionen

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle
 

Kunstvoll und berührend
Thorsten Paprotny

Emotionen, auch die Liebe selbst, lassen sich oft schwerlich ordnen, rückblickend verstehen oder archivalisch erfassen. Peter Stamms Erzähler sucht nach Struktur und Prinzipien für so vieles, was sich weder exakt bestimmen noch sachgerecht verwalten lässt. Er stört sich an vielen Ungenauigkeiten und würde etwa gern eine "Akte zum Thema Geräusche des Wassers anlegen".
Der Archivar, mittlerweile außer Dienst, aber immer noch bestrebt, eine Systematik zu entdecken, gibt Auskunft über eine ganz alltägliche Überforderung - er war verliebt, ist es auf gewisse Weise noch immer, in die Mitschülerin Franziska, die später als Sängerin unter dem Namen Fabienne bekannt wurde. Die "Gefühle", die er für sie hegte, seien anders gewesen als "kindische Pärchenspiele". Der Archivar möchte verstehen, was doch alle rationalen Ordnungsmuster durchkreuzt, die ihm vertraut sind und an denen er sich orientiert: "Meine Gefühle für Franziska überwältigten mich, wenn ich mit ihr zusammen war, kam es mir vor, als befände ich mich in der Mitte der Welt, als gäbe es nur uns beide und diesen Moment und nichts und niemanden sonst, keine Schule, keine Eltern, keine Kameraden. Aber Franziska liebte mich nicht." Zuneigung lässt sich schwerlich bändigen oder einhegen, aber auch nicht willentlich hervorrufen. Indessen sortiert der Archivar akkurat Gedanken über seine Gefühle, die "niemanden" etwas angehen: "Meine Aufgabe ist das Sammeln und Ordnen. Das Interpretieren der Welt sollen andere übernehmen." Das Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit nimmt weiten Raum ein, doch die solide Aktenführung erweist sich stets als unzureichend. Die Schutzbedürftigkeit des Archivars, der ungestört leben möchte, ist von der spielerischen Leichtigkeit, die der Leidenschaft innewohnt, überfordert. Auch zu einem spröden Philosophen hätte er getaugt, vielleicht zu einem disziplinierten Kantianer, der verborgen vor der Welt systematisch alles Menschliche begrifflich zu fixieren bestrebt ist, im festen Glauben daran, auf diese Weise verstehen und erklären zu können, was doch alle Begriffe übersteigt. So gestattete Franziska dem Erzähler einen Kuss, stellte aber zugleich fest, dass sie nicht in ihn verliebt sei. Vierzig Jahre später schreibt der Archivar: "Und das Glück, sie zu küssen, war untergegangen im Unglück, nicht von ihr geliebt zu werden und insgeheim zu wissen, dass ich ihre Liebe nicht verdiente und nie verdienen würde."
Ein Archivar kann zu schulmeisterlicher Pedanterie neigen, auch wenn ihm das nicht bewusst sein mag. Der Erzähler listet zwar auf, was ihm widerfährt, doch er ist nicht hochgemut dabei, sondern auf eine sehr ordentliche Weise hilflos und ausgeliefert. Er hätte Franziskas Kuss genießen können, der ihm doch - ohne alles Verdienst - einfach geschenkt war, aus Freude, aus der spontanen Laune des glücklichen Augenblicks. Doch der Archivar traute schon damals mehr den Kategorien der Ordnung als der unschuldigen Schönheit, die in einem liebevollen, zärtlichen Kuss liegen mag. Der Archivar wünscht sich so sehr, dass alles "Teil eines größeren Systems, einer Ordnung" sein könnte oder sogar sollte. Diese Hoffnung bleibt unerfüllt. Franziska, die Sängerin, die in der Öffentlichkeit als Fabienne auftritt, singt über die "große Liebe" - wie viele andere auch. Der Archivar geht eine Reihe von Beziehungen ein im Lauf seines Lebens, die seiner Selbstanalyse nach an "Entscheidungsschwäche" scheiterten, ebenso an "Gefühlskälte". Schonungslose Einsichten bleiben übrig, aufbewahrt in der "Akte, die mein Leben ist" und die ihm wichtiger war als alles andere. Eine Andeutung träumerischer Fantasie begleitet ihn dennoch, die auch in den späten Begegnungen mit Franziska gegenwärtig ist. Ihre Lebenswege bleiben fein verwoben. Der Archivar lebt, mit fünfundfünfzig Jahren, zwar jenseits des Archivs, in dem er tätig war. Doch das Ordnungsbedürfnis begleitet ihn weiter. Trotzdem könnte der Horizont, vor dem sich Franziska und er bewegen, ein wenig offenbleiben. Mit dieser Ahnung klingt Peter Stamms kunstvoller, berührender Roman aus, der dazu ermutigt, dankbar zu sein für das Glück des Augenblicks, das stets flüchtig und unverdient ist, aber liebevoll und leidenschaftlich gelebt sein darf.

 

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle. Roman. 189 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2021. € 22,00.