Am Erker 82

Peter Böthig (Hg.): Hier soll Preußen schön sein

Kurt Tucholsky Literaturmuseum

 
Rezensionen

Peter Böthig (Hg.): Hier soll Preußen schön sein
Manja Präkels: Wenn mal allet nich mehr is
 

"Noch einmal gab der Sommer seine Wärme."
Andreas Heckmann

Peter Böthig hat einen Arbeitsplatz, um den man ihn beneiden kann: Seit 1993 leitet er das Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg und hat seit 1995 viele Stadtschreiber:innen kommen und gehen sehen, die in einer Wohnung im Schloss jeweils fünf Monate ihrer Arbeit an Prosa, Lyrik, Drama, Übersetzung, Essay frönten, um dann - meist einen Rheinsberger Bogen als eine Art Tätigkeitsnachweis hinterlassend - wieder abzurauschen, überwiegend nach Berlin.
Ende 2019 waren die 50 erreicht: Anlass genug für die Anthologie Hier soll Preußen schön sein, die Beiträge aller bisherigen Stipendiat:innen in oft nur kurzen Ausschnitten zusammenführt, eine Sammlung unterschiedlichster Texte, mal Höhenkamm, mal blutarm-kurzatmig, eine Wundertüte mithin, in die sich manche Niete verirrt hat, über die hier geschwiegen werden soll. Unbedingt positiv aber sei vermerkt, dass die Ausgezeichneten aus Ost- wie Westdeutschland, mitunter auch von anderswoher kamen, nicht immer prominent waren oder wurden, und ein breites Spektrum literarischer Formen vertreten ist.
Mir haben vor allem die Beiträge gefallen, die sich Rheinsberg, seinen Bewohnern, der Landschaft und Umgebung aufmerksam, nicht oberflächlich-touristisch zuwenden. Judith Kuckart etwa (Stipendiatin 1997) lässt eine Autorenwitwe in Vertretung ihres Mannes durch Rheinsberg stöckeln, wobei deren Auftritt aus der Perspektive einer Imbissverkäuferin erzählt wird, aus Sicht der Einheimischen. Inka Bach hebt den Blick über den Schlossgarten des Jahres 1998 hinaus und landet im nahen, so schönen Neuruppin, der Geburtsstadt Fontanes, landet bei Meine Kinderjahre und dem Verhältnis des Autors zu seinem spielsüchtigen Apothekervater. Annett Gröschner geht ihren Beitrag 1999 dokumentarisch an und versammelt einen Chor Rheinsberger Stimmen, aus dem die Geschichte des Städtchens seit den 50er Jahren aufsteigt - unter besonderer Berücksichtigung des KKW Rheinsberg, des ersten von der Sowjetunion exportierten Kernreaktors, dessen Belegschaft in einer neu errichteten Siedlung am Stadtrand lebte: eine großartige Engführung von Sozialreportage und Geschichtspanorama (wie Gröschner ohnehin nie genug zu loben ist). Wiglaf Droste schüttet 2009 süffisantesten Spott über all die Berliner aus, die an schönen Sommertagen das "Umland" mit breitbeiniger Großmäuligkeit beglücken. Peggy Mädler - Autorin der wunderbaren Legende vom Glück des Menschen und in Dresden aufgewachsen - malt sich 2013 eine alternative Kindheit in Rheinsberg aus, mit Eltern, die im KKW beschäftigt sind. Antje Rávik Strubel beobachtet 2016 nicht nur, wie unwohl sie sich angesichts des immer unangenehmer sich spreizenden gesunden Volksempfindens fühlt, sondern sie betritt auch einen Plattenbau und lauscht (staunenswerte Indiskretion im Vergleich zur oft arg braven Stadtschreiber:innenschar). Kathrin Schmidt begibt sich 2017 in die Position von Claire, deren Vorbild Tucholskys spätere erste Frau war, die Medizinerin Else Weil, 1942 in Auschwitz ermordet: ein kunstvolles Glissando durch die Zeiten, doch der Text richtet den Blick auch nach Norden, zum nur 25 Kilometer entfernten Schwedtsee, wo 1938 das Frauen-KZ Ravensbrück errichtet wurde, in dem Maja Haderlap für ihren Roman Engel des Vergessens "in den Transportlisten nach den Deportationswegen ihrer Großmutter, ihrer Nachbarinnen und anderer Frauen aus ihrem Tal" suchte. Die Bürgerrechtlerin Grit Poppe widmet sich 2018 dem ausgezehrten ÖPNV und dem unerträglichen Schwerlastverkehr mitten durch Rheinsberg. Jan Faktor beschreibt im gleichen Jahr, wie produktiv er die Atmosphäre im Städtchen, in der Wohnung, beim Radfahren erlebt, wie gut er literarisch in Fluss kommt, wie entspannt er dasitzen und sinnen kann - eine Liebeserklärung an Atmosphäre und Landschaft. Und Manja Präkels, als 53. Stadtschreiberin nicht mehr in der Auswahl vertreten, hat in ihrem Wenn mal allet nich mehr is betitelten Rheinsberger Bogen Gespräche mit Einheimischen überliefert, eine genaue, durchaus analytische und doch warmherzige Beobachtung des Provinzalltags.
Manch andere, teils hochberühmte Autor:innen wie Wolfgang Hilbig, Katja Lange-Müller, Marion Poschmann, Volker Braun sind in der Anthologie mit Texten vertreten, die mit Rheinsberg nichts zu tun haben, allenfalls dort entstanden sind. So lesenswert sie zum Teil sind: Sie stehen fremd und eigentümlich beliebig zwischen den Beiträgen, die sich Rheinsberg intensiv zuwenden. Womit wir wieder bei der Wundertüte wären. Eine Vernachlässigung des eher Abseitigen hätte wohl größeren Lesegenuss bereitet, eine Beschränkung auf zwanzig Texte verschiedener Länge mit klarem Rheinsberg-Bezug etwa, ergänzt um dreißig biobibliografische Würdigungen der übrigen Autor:innen - so hätte eine literarische Soziografie der Provinz am Beispiel Rheinsberg entstehen können, die größere Strahlkraft gehabt hätte als die vorliegende, mitunter etwas fahrig ausgreifende Anthologie, die mich indes Tucholskys Bilderbuch für Verliebte hat wiederlesen lassen. Interessant, wie vielfältig sich Autoren wie Giwi Margwelaschwili, Thomas Hartwig, Marc Kayser (Stadtschreiber 1995, 2000, 2013) nicht so sehr auf den Ort, mehr auf Details aus Tucholskys Buch bezogen haben (wobei ihre Beiträge nicht den Rheinsberger Bögen entnommen wurden, sondern anderen Werken).
Die Poesie des Best- und Longsellers von 1912 erreichen all diese Texte nur für Momente. Wie heißt es bei Tucholsky: "Sie standen auf einem kleinen Hügel, das Land wellte sich weit fort, spielend riss die starke Luft an den Haaren. Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön ist, sondern weil es da ist, weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben!" Und zum Abschied von Rheinsberg dann (schon braust der D-Zug durch die Nacht zurück nach Berlin): "In die große Stadt, in der es wieder Mühen für sie gab, graue Tage und sehnsüchtige Telefongespräche, verschwiegene Nachmittage, Arbeit und das ganze Glück ihrer großen Liebe." Da schwingt noch Jugendbewegung mit und Neuromantik, da waltet neben den vielzitierten, noch immer frischen, schnoddrig-verspielt-emanzipierten Dialogen von Claire und Wolfgang eine wenn auch ironisch gebrochene Vorkriegssehnsucht. Von der Tucholsky sich im Nachwort zur Neuauflage von 1921 abgrenzt.

 

Peter Böthig (Hg.): Hier soll Preußen schön sein. Fünfzig Stadtschreiber zu Rheinsberg erfinden eine poetische Provinz. 278 Seiten. Quintus. Berlin 2020. € 20,00.

Manja Präkels: Wenn mal allet nich mehr is. Rheinsberger Bogen 53. 16 Seiten. Herausgegeben vom Kurt Tucholsky Literaturmuseum. Rheinsberg 2021. € 4,00.

Auch die Bögen der meisten anderen Stadt­schrei­ber:innen können dort erworben bzw. bestellt werden, freilich ohne Mengen­rabatt, was bei € 4,00 pro Exemplar ins Geld geht. In der Antho­logie dagegen liegen die Texte leider nur (zum Teil stark) gekürzt vor.