Am Erker 76

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen

 
Rezensionen

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen
 

Kämpferisch vom eigenen Scheitern berichten
Andreas Heckmann

Anfangs scheint Anke Stellings Schäfchen im Trockenen nur ein Gentrifizierungsroman aus der Sicht von Wohnraumverlierern zu sein: Resi und Sven sollen mit ihren Kindern ihr Zuhause bei der Gethsemanekirche verlassen, im schönsten Prenzlauer Berg. So einem Setting hat Benedikt Feiten 2016 in Hubsi Dax humoristische Pointen abgewonnen: Den Gentrifizierern in München-Giesing sollte ein Schnippchen geschlagen werden durch die Erfindung eines an Karl Valentin und Weiß Ferdl erinnernden Volkssängers, der im sanierungsbedrohten Haus gewohnt habe, dem darum Denkmalstatus zukomme. Ein abenteuerlicher Plot, ästhetisch dadurch gerechtfertigt, dass die Bemühungen scheitern und das prekäre Bewohnervölkchen die Stellung räumen muss.
Anke Stelling indes erzählt eine weit komplexere Geschichte vom Scheitern und denkt sich kein luftiges Lebenskünstlerpaar mit einem Kind aus, sondern berichtet mit autobiografischen Anklängen von einem Künstlerpaar mit vier Kindern. Ist, wer sich ohne Festanstellung so viel Nachwuchs anschafft, an seinem Elend nicht selber schuld? Haben Resi und Sven nicht viel zu lange im Wolkenkuckucksheim "Prenzlauer Berg in den 90er Jahren" gelebt, als man noch dachte, alle hätten irgendwie gleiche Chancen, wurstelten sich eben durch, und Einkommensunterschiede ließen sich durch cleveres Konsumverhalten egalisieren, durch DIY zum Beispiel und Vintage-Wohnen? Haben die beiden nicht viel zu lange an ihre Kraft, Jugend, Unbesiegbarkeit geglaubt, während andere, genau, ihre Schäfchen ins Trockene brachten, indem sie gutbezahlte Arbeitsplätze ergatterten, florierende Agenturen aufzogen, sich von reichen Eltern großzügig mit Wohneigentum unter die Arme greifen ließen? Indem Geld Geld heiratete, Lehrerinnen Lehrer, Ärztinnen Rechtsanwälte usw., während Resi schrieb und Sven malte, durchaus begabt, wie ihr bürgerlicher Freundeskreis sie gern wissen ließ, und zwar vor allem - wie Resi inzwischen klar geworden ist -, um sich mit Künstlerfreunden zu schmücken.
Wir haben es also mit einem Desillusionsroman zu tun, einem außerordentlich gut geschriebenen zudem, der Analyse mit plastischen, vielfach wohl selbsterlebten und durchlittenen Schilderungen verbindet, die nie wehleidig klingen, weil die Autorin mit sich und ihren Illusionen hart ins Gericht geht und zugleich ein gerüttelt Maß an Wut über die lieben distinguierten Freunde kommuniziert. Lasst euch nicht länger verarschen, ihr idealistischen Aufsteiger, ihr Erstabiturienten aus strebsamem Kleinbürgermilieu. Entwickelt jenes Klassenbewusstsein, das eure das Beste für euch wollenden Eltern, die sich für euch aufgeopfert haben, euch nicht mitgaben, weil sie hofften, eure Ausbildung, euer Studium, euer kulturelles Kapital und eure Willigkeit, euch den Vorgaben des Bürgertums anzupassen, würden euch Erfolg und Wohlstand bescheren.
Letztlich zieht Anke Stelling hier gegen den noch in den späten 80ern virulenten Glauben an die Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs für alle zu Felde, ohne indes die sozialdemokratische Bildungsidee der 60er und 70er Jahre zu diskreditieren. Sie hat nur nicht funktioniert, konnte es wohl auch nicht. Es sei denn, Resi hätte sich für ein Jura-, BWL- oder Medizinstudium entschieden, konsequent auf eine Geldheirat hingearbeitet und jeden Kinderwunsch aufgeschoben bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich ein Au-pair-Mädchen leisten kann, um dann ein, zwei Wunschkinder zu gebären. Statt sich unter prekären Lebensbedingungen vier Kinder zuzulegen, die nun vierzehn, elf, acht und fünf Jahre alt sind. Bea, der 14-Jährigen, wird der Roman erzählt. Wir lesen einen langen, sprunghaften, mitunter naturgemäß redundanten Monolog, gerichtet an die abwesende Tochter, denn Bea würde sich so ein Lamento sicher nicht anhören wollen, und Resi würde ihre Tochter damit vermutlich doch verschonen.
Uns Lesende hingegen verschont sie nicht, und das ist ein Glück, denn so werden wir Zeugen einer aufrichtigen, bitteren, gelegentlich sehr komischen, grotesken, absurden Abrechnung, die vor allem darum kreist, wie man dem Gefühl und der Erfahrung von Verelendung und Verarmung die Stirn bieten kann, nämlich schlecht, auch deshalb, weil man selbst objektiv Fehler gemacht hat und oft tatsächlich versagt. Dann stellen sich Reue, schlechtes Gewissen, ein Gefühl heilloser Überforderung ein, denn längst nicht alles ist allein mit gesellschaftlichen Missständen zu erklären und durch deren Analyse zu überwinden. So heißt es einmal: "Ich bin reingelegt worden. Weiß nicht von wem, gebe keinem die Schuld. Was ich weiß, ist: dass ich's nicht wissen konnte. Davon hat mir keiner erzählt: wie es wirklich ist mit Kindern. Wie demütigend, ihnen kein Vorbild zu sein. Vom Wahnsinn des Familienlebens, dem Gefängnis der Ehe, dem Elend der Elternschaft. Ich will, dass es den Kindern gut geht. Ist das zu viel verlangt? Ja."
Ähnlich wie Manja Präkels in ihrem Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, der dieses Jahr mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, scheint auch Anke Stelling der Strategie von Didier Eribon zu folgen, ein gutes Stück weit über selbsterlebte Ohnmacht und Demütigung zu schreiben und so zu einer Verständigung unter denen beizutragen, denen es ähnlich ging, mit dem Ziel, der erstarkten gesellschaftlichen Rechten den Zulauf abzugraben, der sich vor allem undurchschauten, nicht reflektierten Erniedrigungen verdankt und sich in Ressentiments auf Kosten von sozial noch Schwächeren austobt. So finden sich bei Stelling auch Überlegungen wie diese: "Vorwurf an meine Mutter, Renates Mutter, Renate und all die anderen, die glauben, es sei besser zu schweigen, sich zurückzunehmen und auf die Zukunft ihrer Töchter zu setzen: Ihr irrt euch. Indem ihr schweigt, schluckt und verschleiert, schont ihr uns nicht, sondern haltet uns in Unwissenheit. Privatisiert außerdem gesellschaftliches Unrecht - denn dass es euch nicht gut geht, bemerken wir, glauben aber, das habe rein persönliche Gründe. Ihr schafft's halt nicht, seid nicht stark, schön, schlau und durchsetzungsfähig genug. Oder, noch besser, habt uns bekommen und dafür auf alles andere verzichtet. In der Annahme, dass wir im Gegensatz zu euch ja völlig frei, gleichberechtigt und unseres Glückes Schmied sind, gehen wir also in die Welt hinaus. Und geraten naiv, unvorbereitet und ungeschützt in genau dieselben misslichen Zusammenhänge wie ihr vor uns - denn dass die verschwunden sind, glaubt ihr ja wohl selbst nicht. Oder wollt ihr das gerne glauben?"
Raffinierterweise gibt es zu diesem Erzählstrom eine Art Kehrwasser, ein Was-wäre-gewesen-wenn, und dieses Wenn setzt Resi zu. Vor Jahren hätte sie das großzügige Angebot eines Freundes annehmen können, der Familie einen Anteil am gemeinsamen Hausprojekt im Freundeskreis zu finanzieren. Sven und Resi aber haben in einer Mischung aus Sorglosigkeit, Überheblichkeit und Scham abgelehnt und sind stattdessen in die schöne Wohnung von Vera an der Gethsemanekirche gezogen. Vera und Frank indes haben Resi eine Reportage nicht verziehen, in denen sie zu Protagonisten einer neuen Bürgerlichkeit wurden, die gentrifizierte Trutzburgen errichtet, und ihr deshalb gekündigt. Wie Resi diese demoralisierenden Anfechtungen überwindet, ist spannend zu verfolgen. Die Autorin übrigens hat es in dieser Hinsicht ganz anders gemacht: Mit einer Genossenschaft hat sie ein Haus im Prenzlauer Berg gebaut, in dem sie mit ihrer Familie lebt.

 

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen. Roman. 266 Seiten. Verbrecher. Berlin 2018. € 22,00.