Regen, Ruß und Röntgenstrahlen
Lutz Graner
Erzählungen über die DDR kranken zumeist an einem wesentlichen Punkt, sie erzählen den Ausnahmefall. Literarischen Texten ist das schlecht zu verübeln, immerhin wollen sie Leserinnen und Leser bei der Stange halten, statt sie mit geballter Normalität einzuschläfern.
Lothar Becker aber gelingt es mit einem einfachen Trick, den Alltag, das Lebensgefühl der 1960er Jahre in einer ostdeutschen Kleinstadt ohne die geringste Langeweile einzufangen: Er kramt Versatzstücke aus seiner Erinnerung hervor, steigert sie lustvoll ins Absurde und setzt die Szenen zu einem kleinen Episoden(schelmen)roman zusammen.
An einem namenlosen Ort, bei dem Nord- Süd, West- und Oststraße derart ineinander übergehen, dass das Städtchen schlicht nicht verlassen werden kann, leben skurrile alte Männer und sonderbare Frauen. Überall nur Ruß und Regen, Ruine und Röntgenstrahlen. Mittendrin der Ich-Erzähler, der sich den alten Männern zurechnet, sich allerdings selbst nicht recht erklären kann, warum er - im Gegensatz zu den anderen - den Wohltäter Adolf nicht kennt, keine Rente und nur viel zu selten Bier bekommt.
Der zurückliegende Krieg ist noch überaus präsent, die Angst, "abgeholt und mitgenommen" zu werden, gegenwärtig und der unmittelbar bevorstehende Weltuntergang (sei es nun durch die Atombombe oder als Strafe Gottes) völlig gewiss.
Besonders gut gelingt es Becker, die Staatsgewalt der DDR vor Augen zu führen, nämlich gerade nicht als wohlstrukturierten, unmenschlich-bedrohlichen Apparat, sondern in der ihm eigenen, unberechenbaren Gleichzeitigkeit von Individualität, Gewalt und Lächerlichkeit: "Ein Stück von dem Polizisten entfernt stand dessen Moped. Es war grün und sah aus, als ob er es vor kurzem selbst gestrichen hätte. Das Moped reduzierte seine Bedrohlichkeit. Es relativierte die ihm durch die Pistole verliehene Bedeutung enorm. Trotzdem wechselte ich die Straßenseite und ging ihm aus dem Weg. Man wusste ja nie. Menschen in Uniform waren mit Vorsicht zu genießen, Polizisten sowieso. Sogar die, auf deren Mopeds in Zeitungspapier eingewickelte Frühstücksbrote auf dem Gepäckträger klemmten."
Immer wieder muss man schmunzeln beim Lesen, mitunter gar laut auflachen. Umso wirksamer sind dann jene Stellen, die nicht mehr zu Scherzen aufgelegt sind: wenn beispielsweise die Frage aufgeworfen wird, wie sich die Eheleute wohl unter der Bettdecke fühlen, wenn dem Mann ein Bein fehlt.
Man könnte dem Buch sicher einige Schwächen attestieren. Die erzählte Welt ist nicht frei von unnötigen Ungereimtheiten (z.B. werden Eltern und Schule erst kurz vor Schluss erwähnt). Die gesamte Rahmung überzeugt zudem nicht recht und die zweite Hälfte der Episoden verliert an Witz und Kraft. Eingedenk der Tatsache, dass Anfang und Ende eines Buches ungemein wichtig sind, klingt das nach einem starken Einwand, sollte hier aber nicht überbewertet werden. Denn es gibt so ungemein witzige - und aller Verzerrung zum Trotz - "wahre" Szenen in diesem Buch, dass sich die Lektüre ganz unbedingt lohnt.
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