Krieg im Modell
Simon Scharf
In Zeiten erbitterter gesellschaftlicher Debatten wird es zunehmend schwierig, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Subjektive Zugänge zur Realität prägen besonders den öffentlichen Diskurs über die Themen Flucht, Migration und Integration. In ihrem leisen Debütroman Binde zwei Vögel zusammen widmet sich Isabelle Lehn diesem Wahrnehmungsproblem auf ganz eigene Weise. Aus Abenteuerlust entschließt sich der freie Journalist Albert, eine vom Arbeitsamt annoncierte Statistenbeschäftigung in einem Camp zur Kriegssimulation anzunehmen. Dort mimt er Aladdin, einen verheirateten Cafébesitzer, der um sein Überleben ringt, während um ihn herum gekämpft wird, um nach sechs Wochen tief beeindruckt in sein Alltagsleben zurückzukehren. Fortan manövriert er sich in ein flirrendes Identitätsspiel; angeregt von der fiktiven Biographie Aladdins imaginiert er dessen Geschichte weiter und lässt ihn nach Deutschland flüchten. Bald kann Albert die beiden Erfahrungsebenen nicht mehr voneinander trennen. Auch seine Erzählstimme spaltet sich auf, und er verliert die klare Zuordnung zu einer der beiden Personen. Lehns ungemein politischer Text entlarvt den westeuropäischen Blick auf Kriegskonstellationen (insbesondere im Nahen Osten) als event-orientiert. Medial gefilterte Erfahrungen werden zu einem serienartig konsumierbaren Produkt. So provoziert der Roman auf literarisch ambitionierte Weise zur kritischen Auseinandersetzung mit eingeübten Wahrnehmungsmustern. |