Volles Risiko, einige Nebenwirkungen
Lutz Graner
"Risiko und Idiotie" lässt die Gehirnwindungen der Lesenden glühen.
"Streitschriften" lautet der selbstgewählte Gattungsbegriff für den aktuellen Band der Kleist-Preisträgerin Monika Rinck. Und in der Tat bestätigt sich recht schnell der Lektüreeindruck, dass es sich weniger um einen Text handelt, als um - trotz wiederholter Bezugnahmen und Überleitungen - eine Sammlung thematisch verzahnter Schriften. Die Schreibweisen variieren allenthalben. Literaturkritische Passagen wechseln sich mit lyrischen, reflexive mit anekdotischen ab. Am besten trifft es wohl ein Blick auf den Schutzumschlag des liebevoll gestalteten Buches (*): zwei Frauenköpfe, la Commedia und la Tragedia, ineinander verschmolzen; und das Flechtwerk ihrer Haare scheint der Gedankenführung der Streitschriften zu entsprechen: Ein Aspekt lässt sich eine Weile verfolgen, vollführt etliche Schleifen und Schlenker, schlängelt sich an weiteren Gesichtspunkten entlang, bis er plötzlich abbricht, abgelöst oder erst später wieder aufgegriffen wird.
Bereits auf Seite zwei formuliert Rinck den Zweck uneigentlichen, poetischen Sprechens: "Der Dichter erfrischt die Begriffe." Die nachfolgenden 250 Seiten kommentieren diese These ausgiebig; über Dichtung, poetisches Schaffen und ihre Schaffer wird schillernd reflektiert. Poesie gibt mit ihren eigenen Mitteln Auskunft über sich selbst.
Ihre Sprechposition, ihr Ich teilt Rinck in verschiedene Rollen auf, weithin ist von "der Idiot", "der Dichter" oder "der Leser" die Rede (*), während die Lesenden mit "Sie" angesprochen werden. Erklären lässt sich diese Aufteilung mit der im Text entwickelten Vorstellung von literarischer Kommunikation, also in etwa so: Gesellschaft besteht aus dem Ich und den anderen. Das Ich ist das Eigene, das eigene Denken, Eigensprachlichkeit. Wird nun der Versuch unternommen, die eigene Sprache öffentlich zu machen, zu diskutieren, vorzutragen, besteht das Risiko, unverstanden zu bleiben und oder sich lächerlich, sich zum Idioten zu machen. "Der Idiot" ist die gesellschaftliche Rolle des Ichs mit Zugriff auf die Eigenheit. Der Idiot scheint bei Rinck der Denker, Vordenker, vielleicht auch der Essayist zu sein - er zeigt sich zudem immer wieder als Didaktiker: "Lassen Sie sich zur Einprägung den genannten Dreischritt durch den beflissenen Idioten ein drittes Mal wiederholen" oder "der Idiot fasst zusammen". Mitunter werden jedoch Irritationsmomente, fiktionale Verwischungen gesetzt: "Als der Idiot im März 1727 Alexander Pope kennenlernte". Der Dichter ist der, der dieses Eigene den anderen poetisch zu vermitteln, aufzubereiten sucht. So wäre der Idiot das "philologische Ich", der Dichter das "poetische Ich". Der Leser nun ist der, der die Reflexionen anderer Dichter und Idioten rezipiert und seiner eigenen Idiotie anverwandelt - im Text wird oft, häufig lang, direkt und indirekt zitiert (und natürlich mit Fußnoten versehen). Eine klare Abgrenzung der Rollen ist letztlich aber nicht möglich, wohl auch nicht angestrebt: "Der Dichter schielt idiotisch auf sein Bier". Sogar "ich" und "wir" heißt es zwischenzeitlich - was die Autorin später selbst kommentiert; auch von "Monika Rinck" ist die Rede und in Jean-Paul-Kontexten wird auf "Jenny" Bezug genommen.
Nach einer just "Risiko und Idiotie" überschriebenen Einführung imaginiert Rinck im Kapitel "Zum fröhlichen Urstand" einen unverstellten Blick auf das Eigene: "Sie betreten stolpernd unter verhaltenem Applaus die innere Weltausstellung der Idiotie" und treibt diese Schau konsequent bis zur Feststellung: "Sie verstehen jetzt gar nichts mehr". Auflösen lasse sich eine solche Spannung zwischen Sender und Empfänger am besten mittels Albernheit: "Der Dichter plädiert für eine Spielart des Albernen, die das Eigene als befremdlich vorführt". Schließlich lotet Rinck die Verknüpfungen, das Verhältnis von Poesieproduktion und Lachen, Komik, Witz, auch Klang, Assoziation und Wortspiel aus. Albernheit, verstanden als auf die Spitze getriebener Witz, könne das Sprachmaterial befreien, sei somit fruchtbares poetisches Verfahren. Auch kognitive Zwischenwelten bringen Unerwartetes hervor: Langeweile, Müdigkeit, Traum, Vergessen, und letztlich geht alles ineinander über, schlägt ein Phänomen plötzlich in sein Gegenteil um: Dummheit in Klugheit, Komik in Grausamkeit in Komik …
Am Ende schlägt Rinck die Brücke zu ihrer Eingangsthese: "Fühlt sich die verständliche Sprache eigentlich herausgefordert, da es die poetische Sprache gibt? So wie sich die poetische Sprache herausgefordert sieht, von der Tristesse der Verwaltungssprache und dem Einerlei der Mediensprache und dieser Misere etwas entgegensetzen will."
Mit Risiko und Idiotie hat Monika Rinck einen wahrlich schweren Essay-Brocken vorgelegt, und fast ist zu befürchten, dass sie mit ihrem sympathischen Plädoyer für "das Ausbrechen befremdender Albernheit, den Hauch tiefholden Unfugs und andere taumelnde Spiele" die Lesenden nachgerade einlädt, sich dem Text bei Bedarf auf einfache, aber unangemessene Weise zu entziehen; sprich dazu verleitet, zumindest bei besonders schwierigen oder verspielten Passagen - um es mit ihren eigenen Worten zu formulieren - schlicht "in Zweifel" zu ziehen, "ob die Bemühung", diese Formulierungen "zu verstehen, überhaupt sinnvoll ist". Nichtsdestoweniger ist es einfach wundervoll, dass es noch Verlage gibt, die das Risiko eines solchen Buches nicht scheuen, eines Buches, das die Leserschaft - vielleicht sogar aufs Äußerste - zu fordern versteht und ihr, nachdem es die Gehirnwindungen zum Glühen brachte, albern und klug die Begriffe erfrischt.
* Fußnote 1: Man ist von kookbooks ja nichts anderes gewohnt.
* Fußnote 2: Ein Rollenspiel mit dem (generischen) Maskulinum.
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