Garstig und wahr
Gisela Trahms
Dieses Buch gab es schon einmal, aber nicht für jeden. Als 1966 die erste deutsche Übersetzung bei Rowohlt erschien, lag ihr ein Zettel bei, den der Käufer unterschreiben musste: "Ich erkläre, dass ich das 18. Lebensjahr vollendet habe und das Tagebuch eines alten Narren ausschließlich für meinen privaten Gebrauch erwerbe. Ich werde das Buch verschlossen aufbewahren und Jugendlichen nicht zugänglich machen. Genaue Anschrift - Unterschrift - Datum". Der Giftschrank also für einen Roman, den ein 17-Jähriger niemals auch nur öffnen würde! Schließlich hat der alte Narr Tokusuke 77 Jahre auf dem Buckel und spart nicht mit Beschreibungen seiner Krankheitskrisen. Umso dringender werden daher für den Greis wie den Leser ein paar Freuden gebraucht. Hier genügt eine einzige, intensive. Sie heißt Satsuko und ist die Schwiegertochter.
Immer hat Tokusuke, verheiratet und Familienvater, die Liebe geliebt, ganz selbstverständlich, mit gutem Gewissen und Lust am Experiment. So erinnert er sich gerne an eine Nacht mit einem Schauspieler, der, wie im japanischen Theater üblich, die Frauenrollen verkörperte. Und genau wie eine Frau verstand er zu lieben!, seufzt der Alte. Lange schon sind diese Zeiten vorbei, jetzt geht es um das nicht mehr zauberhafte, gleichwohl heftige Letztbegehren, geschildert von dem, der es erleidet.
Der Anfang verwirrt zunächst. Tokusuke plaudert über seine Theaterleidenschaft, daher rieseln japanische Stücktitel und Schauspielernamen nur so über die Seiten. Im kundigen Anhang sind sie aufgelistet und erklärt, aber besser lässt man sie erst einmal auf sich wirken wie das verheißungsvolle Glöckchengeläut, mit dem sich manche Türen öffnen. In diesem Fall wartet dahinter das erstaunlich Andere einer fremden Kultur.
Utsugi Tokusuke (der Nachname steht voran, wie in Japan die Regel) lebt als Haupt einer wohlhabenden bürgerlichen Familie mit Frau, Sohn, Schwiegertochter, Enkel und Dienstboten auf seinem Anwesen in Tokyo und führt Tagebuch zur seelischen Erleichterung. Die schöne Satsuko, eine ehemalige Revuetänzerin, ist sein Ein und Alles, er erfüllt ihr jeden Wunsch, erwartet aber auch speziellen Dank. Wohl wissend, wie lächerlich er sich durch seine Gier nach erotischer Zuwendung macht, will er trotzdem nicht davon lassen. Nicht, dass er Illusionen nachhinge: Er weiß, wie gebrechlich er ist, dazu hässlich, besonders, wenn er das Gebiss herausgenommen hat. Einmal hält Satsuko ihm einen Handspiegel vors Gesicht, er blickt abwechselnd auf sein Bild und auf sie, und "es war gar nicht zu fassen, dass beide Gesichter zwei Wesen derselben Gattung angehörten".
Täglich neu trickst und schachert er um diese oder jene Gunst, tyrannisiert Frau und Tochter und die für seine Pflege eingestellte Krankenschwester, quält und lässt sich quälen und registriert mit Wonne, dass er in Satsuko eine ähnlich durchtriebene Meisterin gefunden hat. Jeder im Haus und in der Familie weiß Bescheid, aber als ihr Oberhaupt kann sich Tokusuke aufführen, wie er Lust hat. Rücksicht auf seine Frau etwa musste er nie nehmen. Seine Frau war die "Frau des Hauses", das genügte. Inzwischen ist sie alt geworden und hat die Haushaltsführung der "jungen Frau des Hauses" übergeben, Satsuko eben, die diese Pflicht geschickt erfüllt und zu ihrem Vorteil zu nutzen versteht.
Hätte ein europäischer Autor 1961, als der Roman entstand, dieses familiäre Setting dargestellt, hätte er wohl den Konflikt beschrieben zwischen geheimen Wünschen und angepasstem Verhalten, zwischen ethischen Geboten und aufwühlendem Verlangen. Die japanische Version hingegen hält sich frei von Tragik oder Verurteilung. Ganz selbstverständlich etwa wird von Satsuko erwartet, dass sie die Krankenschwester ersetzt, wenn diese Ausgang hat. Dann schläft sie in Tokusukes Zimmer, pflegt und duscht den Alten und duscht auch selbst, und auch der von ihrem Ehemann tolerierte Liebhaber duscht in der offenbar einzigen Dusche des Hauses, am lichten Mittag, weil der Sommer doch so heiß ist, so dass diese Dusche nachgerade zum Zentrum des Hauses wird, und wenn Satsuko einen besonders prächtigen Diamanten begehrt, so weiß sie, wie sie Tokusuke mit Hilfe der Dusche dazu bringen kann, ihn zu kaufen. Als rechtes Ekelpaket verweigert er hingegen der Tochter die finanzielle Hilfe beim Hauserwerb, womit diese sich demütig abfindet.
Das alles wirkt aufrichtig, komisch, garstig und wahr. Kein "Japan light" tritt uns entgegen, sondern eine verblüffende Weise, mit Jugend und Alter, Familie und Trieb umzugehen. Zusätzlich dramatisiert der Zusammenprall westlicher Lebensart und japanischer Tradition die Situation. "Was würde meine Mutter sagen," denkt der Alte, "wenn sie Satsuko sähe: mit Dauerwellen, Ohrringen, die Lippen korallenrot, perlrosa oder kaffeebraun [...]". Satsuko besucht Boxkämpfe, fährt einen britischen Luxusschlitten und bleibt keineswegs im Haus, wie es sich einst für eine Frau aus der Oberschicht schickte. Der westliche Leser staunt allerdings just über die einstigen Sitten, dass Frauen sich nämlich die Augenbrauen abrasierten und die Zähne schwarz färbten. Auch die Beispiele westlicher Kultur wirken in diesem Umfeld wie Bizarrerien: Satsuko, eine eifrige Kinogängerin, sieht französische Filme wie Nur die Sonne war Zeuge mit dem jungen Alain Delon oder Pickpocket von Robert Bresson. Dass sie an Bressons puristischer Ästhetik und strenger Moral Gefallen finden könnte, scheint allerdings ausgeschlossen …
Eine solche Handlung, ein solches Milieu ohne Karikatur und Peinlichkeit zu erzählen, ist ein hochkomplizierter Balanceakt. So leicht sich das Buch liest, so bewundernswert ist dem Autor (und wohl auch dem Übersetzer) die Mischung aus Freimut, Ernst, Absurdität und Reflexion gelungen. Tokusuke führt sich oft herzlich unsympathisch auf, und seinen Fußfetischismus wird auch nicht jeder teilen. Durch den unterschwellig ironischen Ton seiner Tagebucheinträge erregt er dennoch Interesse, sogar Mitgefühl - alt zu werden, ist schließlich kein Spaß, nirgendwo.
Der Autor Tanizaki Jun'ichiro (1886 - 1965), der diesen Roman 74-jährig verfasste, gilt in seiner Heimat als Klassiker. Aus dem umfangreichen Werk sind erst wenige Titel übersetzt, umso mehr Dank verdienen der Verlag und der Zürcher Japanologe Eduard Klopfenstein für die Sorgfalt der Edition und das einfühlsame, erhellende Nachwort. Von der Kultur, in der der Autor und sein Protagonist aufwuchsen, trennen das heutige Japan mehr als hundert Jahre, zugleich erscheint die kapriziöse Satsuko wie der Zukunftsentwurf jener "selbstbewussten Frau", von der Tanizaki träumte. Feministinnen wird sie trotzdem ein Dorn im Auge sein, Männern aber ein Lichtstreif der Hoffnung. |