Geniale Zeitreisen
Stefan Nienhaus
Anhäufungen von Superlativen machen nie einen guten Eindruck, schon gar nicht in einer Rezension. Im Fall von Richard McGuires Here kann ich meine Begeisterung aber nicht anders ausdrücken: Ich halte dieses Werk nicht nur für die schönste Graphic Novel, die ich jemals in den Händen halten durfte, sondern für das großartigste, brillanteste und außerordentlichste Buch dieser Jahre überhaupt. Die Idee ist von genialer Einfachheit und geht auf einen sechs Seiten langen Comic McGuires zurück, der bereits 1989 in einer Zeitschrift erschienen ist. Das nun über siebzig Doppelseiten umfassende Werk entwickelt diese ursprüngliche Grundidee weiter. Die künstlerisch sehr viel anspruchsvolleren und nun auch kolorierten Zeichnungen erzählen, oft in Verbindung mit einem gleichfalls originellen und aussagekräftigen Textteil, die Geschichte eines stets gleichen Raumes im Wandel der Zeiten. Ausgegangen wird von der Jetztzeit 2014, die auf der ersten und der letzten Doppelseite ein Zimmer in architektonischer Kargheit mit einem Fenster, einem Kamin und einem Sofa, dem dann als Zeichen für einen neuen Einzug ein noch leeres Bücherregal und eine Pappkiste hinzugefügt werden, darstellt, dies mittels Verwendung von fünf verschiedenen Farben in deutlichem Kontrast zu den Bildern auf den inneren Einbandseiten, die dasselbe Zimmer ohne Möbel und Kamin in nächtlichen und beunruhigenden Grauweißtönen zeigen (bezeichnenderweise ohne Zeitangabe). Die folgenden Blätter enthalten dieses Zimmer in verschiedenen Jahren (2014, 1957, 1942, 2007) und mit nur minimalen Veränderungen, die, wie eine Schule des genauen Hinsehens, den Betrachter darauf einstimmen, immer aufmerksam die kleinsten Details zu beachten. Diese ersten Bilder wirken wie eine Art Präludium für den immer heftiger wirbelnden Zeitsturm, der dann einsetzt, als eine Frau als erste lebende Person mit den deutlich symbolischen Worten: "Why did I come in here again?" den Raum betritt (auf ihre Frage wird sie erst am Ende des Werks, auf der vorletzten Doppelseite, die Antwort finden: Sie suchte ein Buch, das schon auf dieser Seite durch eine hellgelbe Farbe hervorgehoben war). Mit dieser menschlichen Anwesenheit beginnen auch die Einfügungen kleiner Zeichnungen, die im Kontrast zum umfassenden Seitenbild jeweils Fenster in andere Zeiten öffnen, hier zunächst nur in der Form einer Katze aus dem Jahr 1999, die auf einmal in dem auf 1957 datierten Raumbild auftritt. Die dargestellten Zeiten reichen von der Urgeschichte unseres Planeten (diese Bilder geben die Möglichkeit zu wunderschönen Aquarellen, in deren Feuer-und-Wasser-Welt etwa eine idyllische Picknickszene aus dem Jahr 1870 und gegenüber ein gerade 1402 von einem Indianer abgeschossener fliegender Pfeil eingebaut werden) bis zu Bildern aus einer wieder menschenleeren, nach einer prognostizierten Katastrophe regenerierten, üppigen Natur in der Zukunft im Jahr 22175. Die meisten der jeweils etwa fünf bis zehn Bilder umfassenden Binnengeschichten betreffen den Zeitraum vom Bau des Hauses, in dem sich das Zimmer befindet, im Jahr 1907 bis heute. Die Fülle an Erzählungen, an verschiedensten Geschichten der sich verändernden Dinge und der im Raum agierenden Menschen zu beschreiben, ist hier unmöglich. Jeder, der das Abenteuer wagt, sich in diesen Mikrokosmos hineinzubegeben, wird bei jedem Umblättern Überraschendes entdecken und von den oft sehr witzigen Kontrasten begeistert sein. Vielleicht gelingt es ihm auch, etwas von der zeitlichen Kontamination in seinen eigenen vier Wänden zu spüren, und es geschieht mit ihm das, was auf einem der Blätter einem Indianer widerfährt, der in seinem als kleineres Bild in das doppelseitige des Zimmers eingefügten Liebesakt mit den Worten "I heard something" innehält, weil er das "Ding.Dong"-Klingelgeräusch aus dem Jahre 1986 wahrgenommen hat. |