Schönheit und Genauigkeit
Michael Starcke
In meinem Leben habe ich unzählige Gedichte gelesen, viel mehr, als ich bisher selber geschrieben habe. Aber nur wenige davon sind mir so nahe wie die des sorbisch-deutschen Dichters Kito Lorenc. Allein aus diesem Grund möchte ich mich zu der im vergangenen Jahr erschienenen Sammlung seiner Gedichte äußern, obwohl im unverwechselbaren Vorwort von Peter Handke eigentlich schon alles über sie gesagt wird, was zu sagen ist oder zu sagen wäre. Vielleicht ist es auch eine Art Wiedergutmachung dafür, dass ich Kito Lorencs Gedichte in meiner Jugend zwar toll fand, sie und ihre Poesie aber nicht verstand, ein Blinder unter Sehenden. Und so begreife ich meine Gedanken zu diesen Gedichten auch mehr als ein Selbstgespräch. Wollte ich den Dichter schriftlich davon in Kenntnis setzen, käme ich mir vor, als schriebe ein Enkel an seinen Großvater, obwohl ich selbst fast schon 65 Jahre alt bin.
Kito Lorenc setzt dem Land und den Leuten der Lausitz kein starres Denkmal. Auf ganz eigene Weise bringt er beide, Land und Leute, in Erinnerung, wie es nur in der Poesie möglich ist, einfach und unvergesslich: "[...] in uns eine Saite, wie tönt sie. Ich geh/ sie zu stimmen, heut/ geh ich zur Quelle." Was immer der Dichter in seinem Leben erlebt und durchgemacht haben mag, seine Gedichte sind bar jeder Ideologie, sie schwärzen nicht an, aber entlarven mit Hilfe von Auslassungen. So bekommt der Leser ein klares Bild: "Schlagt Wurzeln im Flug - // aber wenn ihr weint, dann/ weint im Regen - da/ fallen die Tränen nicht so auf." Diese Gedichte kommen mir vor, als hätten sie die Wirklichkeit den Prophezeiungen vorweggenommen, obwohl sie prophetisch bleiben und sind, wahres Leben, wahre Gesichter, wie sie nur der Dichter Kito Lorenc mit Worten zeichnen kann, geerdet und ohne verrückt zu werden: "Kopfsteinpflaster/ glänzte/ mit Anwesenheit/ Ich ging// über harte/ Schädel/ schimmernde/ Glatzen".
Oder: "GINGE ICH NACH HAUS/ wäre das Haus noch da/ Ginge ich in das Haus/ wären die Eltern darin/ Spräche ich zu den Eltern/ wäre ich ein Kind/ und Vater müsste in den Krieg". Man versteht seinen Kummer über die Zerstörung seiner Natur, den Raubbau, die Umsiedlungen: "Und die Bohrbrigade fand/ das erkieste Honigflöz// Trug der Bagger zart in seinem Maul/ fort die Kirche ihren Hof". Und: "Als die Brücke erst den Sand/ förderte danach das Wachs// wuchs zu Abraum Aberraum/ troff aus fernbeheizter Wabe/ Scheibenhonig/ von der Platte".
Deshalb sind mir die Gedichte Kito Lorencs in ihrer Schönheit und Genauigkeit so nah: Sie erzählen das Leben, das noch stattfindende und schon stattgefundene ohne blinde Wut, wenn mitunter auch zornig. Sie schaffen, trotz allem Trennenden, das Große und Ganze zusammenzuhalten wie eine Familie, die kleine Welt der Lausitz, eingebettet in die große, oft zerstörerisch wirkende, Welt drum herum.
Innig sind diese Gedichte, wahrhaftig, und auch, wenn es noch so pathetisch tönt, mit Herzblut geschrieben, Günter Eich zitierend, "Versuche in Wasserfarbe, Versuche/ mit Scheunenschlüssel und Schnee." Und wie nebenbei ist Kito Lorenc ein Naturdichter, einzigartig, wie ich gerne einer wäre, hätte ich das Zeug dazu: "IN JENEM SOMMER// Nachmittags/ vor dem Gewitter/ aus den blutenden Kirschen/ trug der Horniss/ die Wespe// Auf der Straße/ an der Mauer/ gegenüber der Post/ entrollte sich knisternd/ Knüllpapier// und ein Feuerzeug krächzte/ in jemandes Hand/ hastig/ wie ein Vogel/ der erstickt".
Kito Lorenc lebt, was und wie er schreibt, einer, der sein Schicksal angenommen hat wie Heimat, Gewinn oder Verlust, "ein Osterreiter [...], ein alleiniger"; schreibt Peter Handke in seinem Vorwort, "allein auf weiter, umso weiterer, himmlisch weiter Flur", eine Formulierung, der ich ungesehen zustimmen möchte. In meinem Selbstgespräch bleibend lasse ich mir die Poesie Kito Lorencs wie kostbare Früchte auf der Zunge zergehen mit dem Gefühl, nichts könnte mein Fühlen und Denken besser ernähren. Und wollte ich dem Dichter schriftlich davon Kenntnis geben wie ein Enkel, der seinem Großvater schreibt, wählte ich sein eigenes Wort: "DAS WORT// Das Wort eine Nuss/ das Wort eine eiserne Nuss/ zwischen den Zähnen/ Und die tiefen, ertrunkenen Brunnen/ des Schweigens".
Und er würde mir vielleicht antworten: "Und jetzt können wir überall hingehn, / nicht wahr?" Und dem Enkel wäre klar, dass er die Sicht des Großvaters auf die Welt für immer teilen möchte.
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