Junges Alterswerk
Michael Wüstefeld
An diesem Buch von achtzig Seiten ist vieles blau. Der Schutzumschlag. Der Einband. Das Lesebändchen. Das lässt hoffen. Blau fördert angeblich die Konzentration und hält wach. Konzentrieren wir uns also auf Gedichte. Vorweg gesagt: Diese Gedichte würden uns auch dann wachhalten, wenn der Umschlag grün wäre. Nachdem Wulf Kirsten fünfzig Jahre Dichtkunst betrieben hatte, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren mit Preisen und Stipendien hohe Anerkennung fand, erschien zu seinem 70. Geburtstag im Zürcher Ammann Verlag das 400-Seiten-Buch erdlebenbilder. Die meisten seiner Leser dachten dabei wohl weniger an eine Zwischenbilanz, vielmehr an den Schlussstrich unter ein beeindruckendes dichterisches Werk. Zum Glück waren die Schlussstrichdenker einem Irrtum aufgesessen. In besagtem Jubiläumsband von 2004 gab es eine Zugabe bis dato unveröffentlichter Gedichte, die aufhorchen ließen, ebenso in der erweiterten Neuauflage des Poesiealbums von 2009, was gar Hoffnungen auf einen neuen Gedichtband weckte. Zwar sind Verlag und Verleger Ammann inzwischen im Ruhestand, der Dichter aber ist es längst noch nicht. Zur freudigen Überraschung der Leser, wohl auch zu seiner eigenen, ist Wulf Kirsten mit seinen aus Ammann-Zeiten lieferbaren Büchern nicht nur in die Gnadengrube einer so genannten "backlist" gewechselt, sondern glänzt im neuen Verlag auch unter den Neuerscheinungen mit sechzig funkelnagelneuen Gedichten.
Wer diesen Versen abliest, Kirsten sei sich treu geblieben, trifft nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte zeigt einen Dichter, der sich neu erfunden hat. Einerseits pirscht da der allbekannte Landschafter unbeirrt durch Mulm, Dörnicht und "sömmerisch bewachsne gründe", stromert der unermüdliche Fußläufer unverdrossen über "verstrauchte" oder "abdächige wiesen", über "staubichte schluchtwiesen" oder "waldumfangene wiesenpläne". Andererseits, und das ist neu, münden die der Häuslerwirtschaft und dem Dorfleben abgelauschten Themen und Wörter öfter und kräftiger als früher in heiligen Zorn. Nicht nur artig gefügte Metaphern zur Huldigung der Vergänglichkeit, auch herzhafte Schimpfkanonaden auf zeitgenössische Unsitten gibt es. Beißender Spott richtet sich gegen kommunale Vandalen: "kanalräumerlehre/ abgebrochen wegen geistiger überanstrengung/ und ausgefüllt mit der pflege/ von drei hunden, für die väterchen/ staat die steuern erläßt ... wahrheits-/ und besenscheues element,/ von einer veritablen ausdrucksarmut/ geschlagen". Auch die Kanzlerin bekommt ihren Vers weg: "einmalig diese verlegenheits-/ geste, wie sie ihre mundwinkel/ so unnachahmlich gekonnt/ nach unten zu korrigieren versteht". In dem Gedicht "denkfiguren" werden Ärger und Zorn mit Witz und seltenem Reim auf den Punkt gebracht: "von sprachverneblern hinterlassen pseudopolyglott /die leeren worthülsen als schrott./ in dicken schwaden qualmen die phrasen,/ vollmundig in den himmel geblasen." All das gipfelt in dem Gedicht "tirade", das zwar E. T. A. Hoffmann und Bamberg zugeschrieben ist, aber auch den Autor W. K. selbst in wohlbekannt anderer Kleinstadt meinen könnte: "nichtswürdig eingeschachtelt, marterjahre/ unter hundsföttischen lakaien, abgöttisch/ verachtet, hofnarr in einem schmierentheater". Überhaupt nimmt Weimar beträchtlichen Raum ein, als die "stadt im kessel" mit ihren Verwerfungen und dem geschichtsbeladenen Ettersberg. Diesem "berg über der stadt", über den scheinbar allzeit "wabert schlieriger grauschleierdunst", hat Wulf Kirsten nicht nur einige Gedichte, sondern ganze Bücher und tagelange Spaziergänge zu allen Jahreszeiten gewidmet. Bitter resümiert er, wie wenig der Berg heute freien Bürgern bedeutet, Hauptsache, ihre "kraftfahrzeuge brettern die Blutstraße lang".
Immer wieder ist an eingestreuten Namen von Orten und wegbegleitenden Dichtern, einem nicht enden wollenden "zug der gestalten", ablesbar, worum die Kirsten-Welt kreist. Neben Hölderlin, Uhland, Goethe, Schiller und Nietzsche tauchen Harald Gerlach, Helga M. Novak, Elke Erb, Ludvík Kundera und Vilém Závada auf. Und wenn sich der Dichter einmal weit weg begeben hat, vielleicht nach Alzey, Edenkoben oder Hirsau, immer wieder kommen seine Verse ins Thüringer Land oder auf die "erde bei Meißen" zurück. Nahezu unschlagbar ist Wulf Kirsten, wenn er sich selbstironisch und melancholisch porträtiert als "der junge, der ich war" und in seine dörfliche Kindheit als doppeldeutiger "erdenbürger" zurückkehrt: "junge, was soll bloß aus dir /mal werden? Linkshänder/ und zu nischde geschicke ... so ein schwartenheini wie du,/ mit solch einem faulpelz / kann keiner was anfangen". Oder wenn er beinahe im Tonfall eines Volker Braun, wie in "schattenfabel", die "tief abgesunkne geschichte, der die augenzeugen ausgehen", noch einmal für sich und für uns heraufholt, dabei seiner Spielkameraden gedenkt, die "bevor das leben sich anschickte zu beginnen", auf die Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges getrieben worden sind: "da liegen/ sie alle sinnlos verheizt, gutgläubige/ habenichtse, so wie ich sie kannte,/ mit spitznamen nannte, Haddl,/ Deutscher, Mäusel, Mixel, mit denen ich umherlief einträchtig, die lebenslage/ eine einzige lebenslüge, für dumm verkauft, das kostete das leben".
Schließlich setzt der Dichter mit einem Enkelinnengedicht nicht nur jene Oral History fort, die er "zaunüberwärts" schon oft betrieben hat, sondern zeigt damit ganz plötzlich auch eine familiäre Seite, ein wunderbares Novum im Spektrum seiner poetischen Themen. 60 neue Gedichte, die man sich scheut, Alterswerk zu nennen, weil sie herzerfrischend jung wirken.
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