Der Archipelagus
Manfred Benz
Derek Walcott braucht keinem mehr etwas zu beweisen. Der 1930 auf der Antilleninsel St. Lucia geborene Dichter, Dramatiker, Journalist und Maler wurde für sein poetisches Werk 1992 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Im Hanser-Verlag erschien zuletzt Der verlorene Sohn in einer zweisprachigen Ausgabe. Es hätte Walcotts "letztes Buch" sein können: Am Ende tauchten Delphine darin auf, emblematisch und metaphorisch, seraphische Wesen, Wegweiser zum Licht "am andern Ufer".
Mit Weiße Reiher hat der Homer aus der Karibik jetzt ein weiteres Meisterstück veröffentlicht. Der Band wurde mit dem T. S. Eliot Prize ausgezeichnet, die Vorsitzende der Jury lobte ihn als "bewegend und technisch makellos" und pries seine Gedichte als "wundervolle Poesie". Dem lässt sich kaum noch etwas hinzufügen. Die Sammlung enthält insgesamt siebenundneunzig Gedichte, die jeweils zehn bis fünfundzwanzig Verse umfassen. Die Texte stehen einzeln für sich oder sind in kleinen Zyklen von zwei bis zwölf Gedichten angeordnet.
Ihre Themen sind aus Walcotts früheren Werken bereits vertraut: Die Alte und die Neue Welt; die Schönheit der Natur und die Vergänglichkeit der Geschichte; das Begehren und die Liebe, die Trauer und der Tod. Walcott liest im Buch der Natur, vor allem seiner wiedergefundenen Heimat; er liest in den Büchern seiner verstorbenen Freunde, in Werken der Weltliteratur, der King James Bible; und er liest in seinen Erinnerungen, die Erinnerungen eines alt gewordenen Mannes sind. Am leichtesten wirkt sein Ton, wenn er einfach nur sieht und staunt: "Nimm es an" - oder niederschreibt, was die Natur rezitiert: "Ich hielt ein, hörte zu."
Wie die Delphine im Verlorenen Sohn, so erscheinen diesmal die Reiher als "Inbegriff", vielseitige Metapher und sinnreiches Emblem jener größeren Wirklichkeit jenseits der Sprache. Sie sind "wie jähe Engel" unbegreiflich schön, aber auch unheimliche "Grabes-Reiher": "Freunde, die wenigen, die mir blieben, / sind nun am Sterben, doch die Reiher stelzen durch den Regen, / als ob sie keine Sterblichkeit berührt". Vor allem sind sie sehr weiß, so weiß wie das Haar des Dichters, wie die Seiten im Buch, die Leinwand des Malers, die Wolken des Himmels oder die Brandung der See.
Gedichte über Reiher, die auf einer Karibikinsel Insekten aufspießen, sind keine karibischen Gedichte. Gedichte über Tote sind keine Totengedichte. So ist auch Derek Walcott kein exotischer Heimatdichter. In seiner Nobelpreisrede hat er einmal die Lyrik eine Insel genannt, die sich vom Festland abgelöst hat. Seine jüngsten Gedichte wirken noch stärker als die früheren wie ein Archipel, das sich vom Weiß der Seiten abhebt, umgeben ist vom Meer der Zeit, Licht und Schatten ausgesetzt. Einerseits zerrissen und abgelöst - und andererseits zusammengehörig, wie miteinander, so auch mit dem Festland. Weiße Reiher sind ein großartiges und reifes Werk, ihr Dichter ein wahrer Archipelagus.
Die End- und Binnenreime des englischen Originals, das freie Spiel mit den vorgegebenen Formen, der bisweilen expressive Klang und der Rhythmus der Verse, der dem Meeresrauschen abgelauscht zu sein scheint, sind im Deutschen nur schwer nachzubilden. Werner von Koppenfels ist bei seiner Übertragung sehr flexibel vorgegangen. Leider hat er hier und da eine Zeile übersehen, Leitworte nicht analog wiedergegeben und sich mitunter für die semantisch ärmere Wortbedeutung entschieden. Der Seitenblick auf die mitabgedruckte Vorlage sei daher wärmstens empfohlen. |