Am Erker 61

Tom Rachman: Die Unperfekten

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Tom Rachman

 
Rezensionen
Tom Rachman: Die Unperfekten
 

Headlines & Deadlines
Markus Weckesser

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten im Newsroom einer Tageszeitung. Sie erhalten den Auftrag, eine vierzeilige Überschrift zu einer einspaltigen Meldung über einen Anschlag auf eine Pipeline in Nigeria zu verfassen. Ihnen bleiben nur ein paar Minuten bis zur Abgabe. Um 22 Uhr ist Redaktionsschluss für die Spätausgabe. Ihre Headline darf nicht abgedroschen klingen, sie muss spezifisch sein. Eine Zeile wie "Wieder Tote bei Explosion" können Sie getrost vergessen.
Ruby Zaga ist eine Journalistin mit langjähriger Berufserfahrung, dennoch scheitert sie an dieser Aufgabe. Mit atmosphärisch dichten Szenen wie dieser beschreibt Tom Rachman in seinem Roman Die Unperfekten den stressgeladenen Arbeitsalltag in der Redaktion einer englischsprachigen Zeitung in Rom. In diesem Milieu kennt sich der Autor bestens aus. Der in Kanada aufgewachsene Brite hat mehrere Jahre als Korrespondent für Associated Press in der italienischen Hauptstadt gearbeitet und war Redakteur der International Herald Tribune in Paris.
Jedes der elf in sich abgeschlossenen Kapitel seines Debüts wird aus der Perspektive einer anderen Figur erzählt. Die Charakterzeichnungen gelangen Rachman so gut, dass viele Journalisten glaubten, sich selbst oder Kollegen im Roman wiederzuerkennen. Ein erbsenzählender Chefkorrektor wie Herman Cohen, eine kühl kalkulierende Finanzchefin wie Abbey Pinnola und ein desillusionierter Kollege wie der Nachrufschreiber Arthur Gopal finden sich wohl überall. Auch der Typus der ehrgeizigen Chefredakteurin Kathleen Solson ist bekannt. Anstatt Leitartikel zu schreiben, verbringt die Karrierefrau ihre Arbeitszeit in Meetings und denkt sich Intrigen aus. Wenn ihr zum Beispiel ein paar Entlassungen Geld für neue Auslandskorrespondenten verschaffen, dann ist es ihr das wert.
Die Furcht, am nächsten Tag gekündigt zu werden, hängt wie ein Damoklesschwert über den Redakteuren. Keiner kann sich auf der sicheren Seite wähnen. Ihre glorreichen Zeiten hat die inzwischen hoffnungslos veraltete Zeitung längst hinter sich. Die Technik der neuen Medien hat die Branche total verändert und ins Internet verlagert. Immer mehr Leser brechen weg, Anzeigenkunden bleiben aus. Oft übernehmen Finanzchefs das Ruder, die sich mit Zahlen auskennen, aber nicht mit dem Zeitungsgeschäft. Redakteure werden entlassen, Zeit- und Geldbudgets radikal zusammengestrichen. Am härtesten trifft es Freie wie Lloyd Burko. Als der in Paris gestrandete Korrespondent wieder einmal versucht, einen Text zu lancieren, wimmelt ihn der Nachrichtenchef ab: "Von Freien nehmen wir heute nur noch Sachen, bei denen's einem die Kinnlade nach unten reißt. [...] nur noch Sachen, die Auflage bringen. Terrorismus, Iran und Atom, Russlands neue Stärke, so Sachen. Alles andere übernehmen wir inzwischen im Prinzip von Agenturen."
Der Titel Die Unperfekten bezieht sich indes nicht auf journalistische Mängel der Figuren, sondern ihr mangelnde Fähigkeiten im Zwischenmenschlichen. In ihrem Alltag steht der Job an erster Stelle, das Familien- und Privatleben wird zur Nebensache. Gescheiterte Ehen und Beziehungen sind nicht nur im Roman die Folge. Untersuchungen haben ergeben, dass unter Journalisten die Scheidungsrate am höchsten ist.
Tom Rachmans Roman steht in der Tradition von Evelyn Waughs Satire Der Knüller und Michael Frayns Gegen Ende des Morgens, die das Leben in der Londoner Fleet Street in den vierziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschreiben. Mögen einige Situationen und Figuren auch überspitzt sein, ein besseres Plädoyer für die gedruckte Zeitung zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es nicht.

 

Tom Rachman: Die Unperfekten. Roman. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. 397 Seiten. DTV. München 2010. € 14,90.