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S. Fischer
Judith Hermann

 
Rezensionen

Judith Hermann: Alice
 

Es raschelt Papiertote
Sebastian Polmans

Auf den Buchmessen raschelt es Papier, totes Papier, wie auf einem Friedhof, räsonierte einst Thomas Bernhard in seinen Monologen auf Mallorca. Und um kurz bei Bernhard zu bleiben, steht das Brimborium um unzählige Neuveröffentlichungen in den durchbuchstabierten Hallen dem stillen Akt des Lesens tatsächlich gegenüber wie das Leben dem Tod.
Für ganz viel Lärm in den Buchmessehallen sorgte vor mehr als einem Jahrzehnt Judith Hermann mit den neun Adoleszenzgeschichten ihres Bands Sommerhaus, später (1998), allesamt im Berlin der Jahrtausendwende angesiedelt, mit einer kühlen reduzierten Sprache und plötzlichem Erfolg, der die Epoche einer neuen Erzählweise des Vagen einläuten sollte.
In Sommerhaus, später ging es um unausgefüllte Lebensentwürfe; Postpubertäre in ihrem Patchwork-Dasein, deren Identitätspotential so enorm war, weil die damals 28-jährige Berlinerin mit Selbstverständlichkeit eindringliche Erzählstimmen vorführte, die entscheidende Lücken ließen, wenn es um Entscheidungen ging. Junge Berliner Stadtmenschen, stetig flirrend über dem Boden der Tatsachen und gerne in Nebel, Zigarettenrauch und melancholische Musik gehüllt, kamen zur Sprache in ihrer Sprachlosigkeit. Fragezeichen tauchten kaum auf, auch wenn unzählige Fragen formuliert wurden. Die Kontrafakturen junger, latent depressiver Menschen wurden bestaunt, und der Autorin sprach man in den Medien ein Schillern zu, das sie fortan begleiten sollte: über den zweiten Erzählband Nichts als Gespenster (2003), in dem sie ihren einzigartigen Ton in Island, Norwegen oder Tschechien erklingen ließ, bis zum jüngst erschienenen Buch Alice. Und dieses kann als Konsequenz einer Autorin gelesen werden, die dem Lärm um ihre Person am liebsten immer noch mit einem schüchternen Schweigen begegnet.
Die Texte sind ja lesbar, selbstredend, und diesmal ist das Schweigen - das das literarische Sprechen ist - sehr entschieden und von einer einzigen auktorialen Erzählerin ausgesprochen, und nicht, wie bislang, verschiedenen Ichs überlassen. Fünf Erzählungen, in denen Alice viermal mit Sterbenden oder kürzlich Verstorbenen konfrontiert wird und sich einmal an einen vor langer Zeit Verstorbenen erinnert, ohne dass der Leser viel über diese Personen erfährt. Alle fünf sind Männer unterschiedlichen Alters, darunter auch ihr Ex-Liebhaber, der in einem Provinzklinikum verkümmert und dessen Frau und Kind sie bis zum Exitus begleitet. In der letzten Geschichte stirbt ihr eigener Freund Raymond, und sie macht sich daran, "seine Sachen wegzuschaffen". Woran er stirbt, wird verschwiegen, und auf den Satz "Raymond ist gestorben", den Alice beim Inder sitzend nicht auszusprechen vermag, folgt eine Aufzählung von Dingen: "Salatköpfe auf dem nassen Holzbrett, Weintrauben, Bananen, Honigmelonen." Hier zeigt sich das prägnanteste Leitmotiv des Buches, in dem eine doppelgesichtige Erzählhaltung deutlich wird: Der Tod als Sujet wird kurzgeschaltet mit alltäglichen Begegnungen, Smalltalks, mit flüchtigen Gerüchen und ganz normalen Gegenständen, die einer Auseinandersetzung mit dem Sterben deutlich entgegengesetzt sind. Statt ins Himmelreich zu entschwinden, scheinen die Toten vielmehr umzuziehen. Denn was Hermann ihrer Alice versagt, ist das Trauern als Katharsis. Lässt man sich auf diese Gefühlskälte ein, heißt das für den Leser: Platz nehmen im Warteraum. Am Ende wartet er weiter, keine einzige Träne hat Alice geweint.
Klare Konzepte eines Erzählverfahrens scheinen während der Lektüre auf, mit denen die Autorin womöglich ein wenig von der Zauberkraft ihrer "schönen Sprache" einbüßt, ihre Stimme allerdings um eine Ebene erweitert. Denn die Sammlung profaner Dingketten steht dem Ereignis des Todes der mehr oder weniger geliebten Personen gegenüber. Es ist, als würde die Sammlung an Gegenständen, Geräuschen und Gerüchen den Tod besiegen, als würden sie zu heimlichen Kompensatoren der Trauer.
"Wenn jemand geht, der dir nahe ist, ändert sich dein ganzes Leben, es ändert sich, ob du willst oder nicht", heißt es im Buch. Davon ist in Alice aber nicht die Rede, weil das ganze Leben von Alice ungewiss bleibt. Es sind Zwischenräume, aus denen solche Aphorismen hervorgehen, die über das Erzählte hinausweisen. Leerstellen, die deutlich markiert sind mit dem Pathos einer Erzählstimme, von der man sich wünschen könnte, dass sie bei einzelnen Dingen länger verweilen möge, statt sie bloß aufzulisten. Oder die eben deshalb greifen, weil in diesen Lücken Unruhe nachhallt. Eine Unruhe, die dem Erzählton Judith Hermanns nicht bekommen würde, wäre sie beschrieben; eine, die dem Geräusch des Raschelns in den Messehallen vielleicht verdächtig nahekommt.

 

Judith Hermann: Alice. Erzählungen. 189 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2009. € 18,95.