Wahlverwandtschaften
Markus Weckesser
Sie ziehen sich an, und sie stoßen sich ab. Nur sind sie
sich dessen gar nicht bewusst. Bloß punktuell berühren
die Schicksale der vier Hauptfiguren von Diese Seelen einander.
Über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren, beginnend 1978,
begleitet der Erzähler die Entwicklung seiner Antihelden.
Ihr Kampf um einen Platz in der Welt mag zwar vom Autor exemplarisch
angelegt sein, doch zugleich wirken die Figuren im aristotelischen
Sinne auch tragisch. Darin besteht die Kunst von Enno Stahl, das
macht seinen zweiten Roman zu einer echten Entdeckung.
Dabei wartet die erste der vier lose zusammenhängenden Lebensgeschichten
mit einem Ekelpaket der Sonderklasse auf. Der junge Soziologe
Robert erforscht Verarmungs- und Ausgrenzungstendenzen von sozial
Benachteiligten. Mitgefühl kennt der zynische Egozentriker
nicht, er denkt ausschließlich an sein berufliches Vorankommen.
Doch um eine Stelle als Juniorprofessor zu bekommen, legen die
Entscheider neben dem richtigen Parteibuch auch Wert auf Menschlichkeit.
Robert wird nicht berücksichtigt und verwahrlost zunehmend.
Seine ehemalige Schulfreundin Tess startete ihre journalistische
Karriere zufällig mit einer Reportage über Obdachlose.
Je mehr Erfolg sie hat, desto skrupelloser wird sie. Tess nutzt
Mitarbeiter aus und verdient an menschenverachtenden TV-Sendungen.
An das fröhliche und aufgeschlossene Mädchen von einst
erinnert nur noch eine Bemerkung in einem alten Zeugnis. Mit guten
Noten konnte Jürgen nie glänzen. Schon in der Schule
war er ein Verlierertyp. Später hofft er auf eine Rolle in
einer Seifenoper, ergattert aber nur eine kleine Statistenrolle.
Schließlich begnügt er sich mit einem Job als Autoverkäufer.
Seine Schwester Mika wählt nach einer überstandenen
Krebserkrankung die Sicherheit eines kleinbürgerlichen Lebens.
Die zweifache Mutter arbeitet als Jobvermittlerin beim Arbeitsamt,
wo Robert auf sie trifft.
Während der Soziologe das Amtsprocedere als seinem Stand
nicht angemessen empfindet, wertet Mika dessen Tonfall und Reaktion
wiederum als Beamtenbeleidigung. Beide fühlen sich ungerecht
behandelt oder zumindest missverstanden. Da den Hauptfiguren jeweils
eine Geschichte gewidmet ist, wird jede Begegnung aus zwei Perspektiven
beschrieben. Wie ein Leitfaden zieht sich das duale Prinzip durch
das Buch. Beschrieben werden ein kurzzeitig freiwillig vereintes
und ein durch Geburt verbundenes Paar. Scheint die Zukunft des
ersteren anfangs noch glänzend, so entpuppt sich dessen spätere
Karriere als Debakel. Genau gegenläufig gestaltet sich der
Weg der Geschwister, die trotz schlechter Startbedingungen zu
einem zufriedenen Leben finden.
Der Aufbau der Erzählung spiegelt sich zwangsläufig
in den Viten wider, die als zeitgenössische Möglichkeitsentwürfe
angelegt sind. Ob in Hochschule, Medien, Handel oder Behörde,
die äußeren Bedingtheiten und Talente sind nur die
eine Seite der Medaille. Wie der Einzelne seine individuellen
Chancen nutzt, das scheint hier wichtiger.
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