Seminaristenprosa
Michael Esders
Zu einem Suhrkamp-Band gehört das unvermeidliche
Autorenporträt von Isolde Ohlbaum auf dem Umschlag: Es zeigt
einen sehr jungen Mann, Jahrgang 1980, mit melancholischem und
zugleich durchdringendem Blick. Paul Brodowsky heißt er,
ein Name, der an Bobrowski und Bukowski erinnert und deshalb sehr
literarisch klingt. Außerdem hat er bereits im zarten Alter
von 22 Jahren mit dem Prosaband Milch Holz Katzen debütiert,
und zwar ebenfalls bei Suhrkamp. Das macht neugierig. Noch stilisierter
als das Autorenfoto ist das fotografische Werk jener blinden Fotografin,
die dem neuen Erzählungsband den Titel gibt. Auf einem Selbstporträt
ritzt sich die morbide junge Frau mit einer Rasierklinge den Oberarm
auf. Ähnliches kennt man aus der jüngeren Literatur.
War es dort nicht die Stirn? Der Plot der titelgebenden Geschichte
ist künstlich und reichlich konstruiert. Eine Fotografin
verliert ihre Sehkraft und beauftragt ihren Freund, ihr zu beschreiben,
was er sieht. Der Ich-Erzähler hetzt, gewissermaßen
als ihr Auge, durch New York, um die Welt für die Erblindende
festzuhalten. Dieses Konstrukt samt des effektvoll arrangierten
Schlusstableaus kommt dem Autor Brodowsky sehr entgegen. Schließlich
bietet es ihm den perfekten Vorwand für seine additive und
mit ihrem inflationären Adjektivgebrauch rasch ermüdende
Beschreibungsprosa. Ärgerlich auch, dass das, was der Ich-Erzähler
für seine Geliebte inventarisiert, nur selten über die
bekannten Großstadtklischees aus "verzweigten Subwaystationen",
"Tunnelsystemen" und "steilen Rolltreppen"
hinausgeht. Auch die anderen "Boy meets Girl"-Geschichten
des Bandes spielen in Metropolen, die ihnen Weltläufig- und
Welthaltigkeit einflößen sollen: Berlin, Hanoi, Honkong,
darunter macht es Brodowsky offenbar nicht. Die Figuren heißen
Nora, Irina, Rachel, Marten oder Zoltan und sind so austauschbar
wie die Schauplätze. Meist gehören sie einer jungen
Künstlerboheme an und irren durch nächtliche Städte.
Frauenhaar verströmt einen "feinen Maronenduft",
eine nackte Schulter das Aroma "von Holunderblüten".
Die Männer verlieben sich, leiden unter der Abwesenheit der
Geliebten und sinnieren darüber, was sie und mit wem sie
es wohl gerade treibt. Sie gefallen sich in ihrem Selbstmitleid
und kultivieren ihre Obsessionen. Alles ist flüchtig und
irgendwie sehr bedeutend. Konturen verschwimmen, Identitäten
lösen sich auf, wie es sich für das Leben in Großstädten
eben gehört. Nur haben dies andere Autoren schon weitaus
überzeugender beschrieben, fast hundert Jahre vor Brodowsky.
Diese sechs Erzählungen sind keine, wie sie die Rezensentin
der 'Neuen Zürcher Zeitung' spöttisch genannt hat, "Gymnasiasten-
Prosa". Dafür sind sie zu elaboriert und kalkuliert.
Vielmehr sind sie in ihrer Mischung aus Stilsicherheit und Leere,
Sprachbewusstsein und Belanglosigkeit ein typisches Beispiel für
Seminaristenprosa, diesmal nicht aus Leipzig, sondern aus Hildesheim,
wo Brodowsky kreatives Schreiben studiert hat. Der junge Mann
hat Talent, gewiss. Wenn er etwas zu erzählen hätte,
könnte er es vielleicht auch zeigen.
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