Erst hoffen, später seufzen
Marcus Jensen
Das eigene Nachwort zu schreiben, ist eine der
beliebtesten Übungen unter Autoren, und das eigene Debüt
Jahrzehnte später zu beurteilen, kommt dem schon ein bisschen
nahe. 91 solcher Stellungnahmen vereinigt dieses Buch, von Ilse
Aichinger (1948) bis Lutz Seiler (1995), und jedem Autor war natürlich
freigestellt, wie er oder sie an das Debüt herangeht. Biografischer
Rückblick und literarische Selbsteinordnung können sich
erheblich von der Wahrnehmung durch die Literaturwelt unterscheiden
- das sollte man eigentlich erwarten. Während Autoren bei
ihrem ersten Buch anfangs meistens MEINS!-MEINS!-MEINS! schreien,
haben Journalisten und Kritiker selten Lust dazu, und Wissenschaftler
sehen im Debüt sogar nur irgendeine schriftliche Manifestation,
bestimmt durch ein Geflecht aus soziokulturellen Faktoren. Macht
ja nichts. Der tiefergehende Konflikt aber liegt darin, dass die
Wissenschaft und gerne auch die Kritik einen erkenntnistheoretischen,
gesellschaftspolitischen Aspekt eines Werkes sehen möchte
und entsetzt ist, wenn die Belletristen sich an konkreten Einzelheiten
und Verlaufdetails festkrallen. Die Wissenschaft sagt im Extremfall
abschätzig, die Autoren guckten nie über ihren Tellerrand,
und die Autoren wiederum schütteln grinsend die Köpfe,
weil doch alles Leckere letztlich auf Tellern liege. Das Missverhältnis
lässt sich nur dadurch beenden, dass der Literat stirbt und
somit die Literaturwelt nicht länger stören kann. Robert
Menasse zitiert in seinem Beitrag seinen eigenen Doktorvater Schmidt-Dengler,
den späteren Doderer-Herausgeber, der im hochpolitisierten
Jahr 1972 vor versammeltem Seminar getönt haben soll: "Wenn
Sie größtmöglichen Unsinn über ein literarisches
Werk hören wollen, dann fragen Sie den Autor!"
Alle Beiträge dieses Bandes stammen von Profis, die wissen,
wie man sich benimmt, inszeniert, panzert. Thomas Hettche stimmt
Schmidt-Dengler sogar zu, wenn er sagt, bei der "literaturhistorischen
Einordnung" sei "der Autor immer der falscheste."
Genau das ergibt sich vollautomatisch, denn die beiden Sphären
suchen sich gar nicht ernsthaft. Handeln Autoren nun schlau oder
geschickt, wenn sie bei ihrer Einschätzung die wissenschaftliche
Sicht simulieren? Einige von ihnen erledigen ihren Job sehr germanistisch
(Hans Magnus Enzensberger z.B. liefert gewissermaßen sein
eigenes Lektoratsgutachten) und halten das offenbar für besonders
abgeklärt. Auch das macht nichts. Der Autor wird dadurch
zwar langweiliger, aber er fügt seinem Werk keinen Schaden
zu, denn die Nachwelt ignoriert bei ihrem Urteil sämtliche
streitenden Instanzen.
Die allermeisten Autoren empfinden ihre Debüts als schwächere
Bücher, schon aus biologisch-vitalistischen Gründen
müssen sie glauben, sie hätten sich später gesteigert.
Dagegen betrachten Journalismus, Kritik und Wissenschaft ein Debüt
zwanghaft als eine Vorstufe zu etwas im folgenden Werk. Somit
läuft die Sache bei der Einschätzung eines Debüts
oft gerade anders herum: Ausgerechnet Autoren sind in der Lage,
Debüts isoliert zu betrachten. Viele nutzen diese Möglichkeit
und weisen das erste Bändchen abwinkend von sich, wie etwa
Friederike Mayröcker oder Elfriede Jelinek, manchmal schroff
wegen politischer Anpasserei (Adolf Endler), oder bloß verächtlich:
"Insgesamt ein sympathisch verworrener Mist" (Michael
Lentz). Gerhard Roth, Eckhard Henscheid, Bodo Kirchhoff und Thomas
Rosenlöcher gehören zu den wenigen Ausnahmen derjenigen,
die ihre Debüts nicht verleugnen mögen oder gar loben.
Die angemessenste Form der Rückschau scheint hier eine epische
zu sein, die sowohl anekdotenreich als auch analysierend zum saftigen
Schwammdrüber ansetzt, wegwischt oder herausputzt oder eben
mit einer Aufwaschbewegung dialektisch beides schafft. Farbig,
unterhaltsam und dabei genau schreiben einige Autoren, darunter
Siegfried Lenz in einem der wenigen nicht exklusiven Beiträge,
und mindestens wegen der vielen Seiten von Uwe Kolbe, Edgar Hilsenrath,
Uwe Timm, Hans Joachim Schädlich, Ingo Schulze, Thomas Hürlimann,
Sten Nadolny und Robert Menasse lohnt sich der Band.
Wilhelm Genazino analysiert süffisant ("Ich hatte den
Krieg nicht miterlebt und schrieb doch wie ein Kriegsautor, der
sich in der Nachkriegszeit nicht zurechtfand"), Peter Handke
liefert eine einzelne wirre Seite nur für Insider, der erste
Platz in Sachen Originalität geht an Franzobel, und geradezu
fesselnd spannend schildert Patrick Roth seine Studio-Zusammenarbeit
mit Klaus Löwitsch. Alexander Kluge dagegen macht alles ganz
anders und nutzt die Gelegenheit, in diesem Band lieber zwei verworfene
Texte unterzubringen, denn er weiß, dass er aus irgendwelchen
Gründen sowas darf.
Einige Autoren haben das Verlangen, zopfige Ausdrücke zu
wählen, Jürgen Becker etwa steuert nicht nur einen banalen
und dörrobstdrögen Text bei, sondern fühlt sich
auch noch verpflichtet, von sich in der Er-Perspektive als "der
Verfasser" zu berichten. Fritz Rudolf Fries, Harald Hartung
und Jochen Schimmang nennen sich ebenfalls gerne "er"
oder "der Autor". Adolf Muschg schreibt ebenfalls "der
Verfasser" - offenbar hält die ältere Generation
das für vornehm. Muschg meint zudem, sein Debüt "kam
bei qualifizierten Lesern an." Eine faszinierende Formulierung,
über die sich die un-qualifizierten Leser noch nicht einmal
ärgern können. Günter Kunert schließlich
verdient eine Strafe für den Ausdruck "auf dem Rücken
des Pegasus". Und weil es kein einmaliger Ausrutscher war,
schreibt er auf der nächsten Seite sogar noch, er gebe dem
"Pegasus die Sporen". Ein weiterer Ritter der Kokosnuss,
diesmal aus der Generation 40+, ist Durs Grünbein ("Jetzt
erreicht mich die Bitte um eine neuerliche Lektüre"),
der in seinem Beitrag den "Hufschlag des Pegasos" vernimmt.
Da werden sowohl der geneigte Leser als auch der interessierte
Laie aus Freude über dieses Hottehü demselbigen die
Zügel schießen lassen, sapristi.
Eine Faustregel: Je jünger die AutorInnen bei ihrem Debüt
waren, desto häufiger wussten sie nicht, wie ihnen geschah.
In jüngstem Alter erscheint das erste Buch oft als geschenkte
Selbstverständlichkeit, aber hat man sich bereits für
diesen Lebensweg entschieden, wachsen Druck und Torschlusspanik
gewaltig. Mit Anfang 20 ist es noch Fun (Christoph Meckel), mit
Anfang dreißig (Brigitte Kronauer) hängt das Leben
dran. Eine Ausnahme bildet Eva Demski, die mit 33, der Titel ihres
ersten Buches Goldkind spiegelt es, traumtänzerisch
zum ersten Vertrag gelangt.
Warum veröffentlichen Verlage Debüts? Aus Spekulation
auf den Überraschungserfolg? Aus Idealismus? Die Germanistik
ignoriert hartnäckig, dass immer mindestens zwei dazu gehören,
Autor und Verlag, sie klammert chronisch das Störende, Peinliche,
Fleischliche des Untersuchungsgegenstands aus, als ob dieser sonst
auch existieren würde. Aber selbst diese späteren Profi-Autoren
machen sich selten Gedanken über diejenige Instanz, die ihnen
überhaupt zu ihrem Debüt verhilft. Und passend dazu
gibt es hier nicht eine einzige Stellungnahme, die von finanziellen
Gewinnträumen spricht. Kann das stimmen, kann das die tatsächliche
Gefühlslage wiedergeben? Ganz sicher zumindest dürfte
dies das letzte Buch seiner Art sein, in dem Agenturen noch keine
Rolle spielen.
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