Schmetterlinge in Tibet
Gerald Funk
Es ist das Vorrecht großer Autoren, zu
weit zu gehen, Grenzen zu überschreiten, Grenzen der Moral,
des guten Geschmacks und Grenzen der Form. Der Roman als das
Genre der Moderne ist ohnehin bereits ein literarischer Hybrid.
Er hat im Laufe seines Siegeszugs in der Welt der Literatur keine
falsche Scham an den Tag gelegt, hat sich mit allem eingelassen,
was ihm interessant erschien, hat sich bei den Ritterepen bedient,
ist mit Reiseberichten in fremde Länder und exotische Abenteuer
aufgebrochen, hat in seinem ungeheuren Stoffhunger den Wissenschaften
über die Schulter geschaut und alle Gattungen - vom Flugblatt
bis zum Fahrplan, vom Tagebuch bis zum Essay - in sich aufgenommen
und durchprobiert. Wer also heutzutage literarisch noch Überraschungen
bereiten will, muss womöglich weit zurückgreifen, zum
Beispiel bis ins Epos, das der Roman als Form des Erzählens
eigentlich beerbt hat. Seltsamerweise haben das immer wieder Autoren
versucht. Und dieser Versuch geht, ob bei Melville, Döblin,
Schaeffer oder Däubler, nicht selten mit dem Versuch einer
Remythisierung der Moderne einher - und er geht nicht selten in
die Hose. Döblins Manas von 1927 etwa galt Oskar Loerke
noch als ein Werk, das "den Ruhm der deutschen Literatur
in die Zukunft tragen" werde - selbst Musil war verzückt
-, es war aber, um ehrlich zu sein, damals schon und ist heute
kaum zu genießen. Umso verwunderlicher ist es, dass sich
zwei der vermutlich wichtigsten zeitgenössischen deutschsprachigen
Autoren, Durs Grünbein und Christoph Ransmayr, kurz hintereinander
in die prominente Schlange eingereiht haben. Grünbein lässt
Descartes episch wiederauferstehen (Vom Schnee, 2003),
und Ransmayr erzählt uns auf mehr als dreihundert Seiten
die Geschichte zweier irischer Brüder, die in die unwirtlichen
Regionen des Transhimalaya aufbrechen, um in den Gebirgen Osttibets
einen bislang unentdeckten Berg zu suchen und zu besteigen, den
vielleicht letzten weißen Fleck der Weltkarten.
Die Geschichte hebt tatsächlich an wie ein Epos ("Ich
starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel am vierten Mai im
Jahr des Pferdes"), aber sie endet wie ein Roman ("Dann
höre ich den Chor der Sturmgeräusche, höre das
bedrängte, seufzende Haus [...], und schlafe beruhigt weiter,
erleichtert, daß [...] ich bloß warten muß auf
das Nachlassen des Windes, auf ein sanfteres Meer"). Ich
könnte auch sagen: sie beginnt archaisch und endet psychologisch.
Dazwischen erstrecken sich die Mühen der Eroberung des Unerforschten,
jenes Phur-Ri, des 'fliegenden Berges', der bislang in den unzugänglichen
Hochtälern Tibets verborgen war und unerreichbar scheint.
"Vielleicht", so können wir lesen, "ist jenes
Bedürfnis tatsächlich unstillbar, das uns selbst in
enzyklopädisch gesicherten Gebieten nach dem Unbekannten,
Unbetretenen, von Spuren und Namen noch Unversehrten suchen läßt
- nach jenem makellos weißen Fleck, in den wir dann ein
Bild unserer Tagträume einschreiben können." Der
Weg dorthin aber ist voller Gefahren wie im klassischen Abenteuerroman
- Abstürze in Gletscherspalten, einsame Nächte in Schneestürmen,
Angriffe chinesischer Besatzer -, ein Weg, auf dem die Gegenwart
erlitten und erlebt, zugleich aber auch die Vergangenheit erobert
wird. Dabei verschränken sich die Auseinandersetzung mit
dem Elementaren, mit Grenzerfahrungen im Angesicht von Tod und
Untergang, und die psychologische Erkundung einer Kindheit zwischen
Vater und Bruder in der sturmgepeitschten Abgeschiedenheit einer
Insel vor den Küsten Irlands. Einer der beiden Brüder
kommt bei der abenteuerlichen Reise ums Leben, der andere berichtet
rückblickend und von kunstvoll arrangierten assoziativen
Erinnerungen durchwoben über dieses Abenteuer, diese Sinnsuche
im Eis, im noch unbeschrifteten Weiß einer Welt, die ansonsten
durchweg vermessen und verplant ist. Er berichtet indes auch von
der Vergangenheit, von der Sehnsucht und der Verblendung des Vaters,
von dessen gescheiterter Karriere als irischer Freiheitsheld,
vom Verlust der Mutter, die mit einem Fernsehtechniker auf und
davon geht, vom schwierigen Verhältnis zweier Brüder,
von denen einer der Macher, der andere der Grübler ist.
Es sind große Dinge, die Ransmayrs Roman verhandelt, aber
der Text kann sich nicht recht entscheiden, was er denn nun sein
will: Epos oder psychologischer Roman. Allein das Arrangement
der Zeilen, die nicht im üblichen massiven Blocksatz erscheinen,
sondern, ungleichmäßig gefüllt, den Flattersatz
von Versen imitieren, zeigt das besondere Kunstwollen des Autors.
Aber halb gefüllte Zeilen machen noch kein Gedicht, geschweige
denn ein Epos. Das weiß auch Ransmayr selbst, der in einer
Vorbemerkung allen Kritikern von vornherein erklärt, der
"fliegende Satz" sei frei und gehöre nicht allein
den Dichtern. Wenn man indes die dem Buch zu Werbezwecken beigefügte
CD anhört, auf der Ransmayr Ausschnitte seines Buches liest,
erkennt man die außerordentlich starke Rhythmisierung, die
er im Vortragen seinem Text gibt. Er schlägt akustisch den
eher weihevollen Takt, in dem die profane Prosa hier anzutreten
hat. Ransmayr hat sich seit seinem ersten großen Roman Die
Schrecken des Eises und der Finsternis immer in Gegenden gewagt,
die geographisch, aber auch ästhetisch noch weitgehend unerschlossen
waren. Auch in Morbus Kitahara und Das Ende der Welt
suchte er nach Formen, die seinen Stoffen angemessen waren. So
weit wie diesmal hat er sich jedoch bislang nur in seinem Erstling
Strahlender Untergang aus dem Jahr 1982 vorgewagt. Auch
dort haben wir - allerdings nur auf sechzig Seiten - die eher
spärlich gefüllten Zeilen. Dort war die Welt indes in
ein apokalyptisches Wüsten-Szenario getaucht, diesmal ins
Licht einer vagen Hoffnung, das trotz allen Scheiterns aus der
Vertikalen einfällt. Das dürfte nicht jedermanns Sache
sein.
Es gibt, das soll nicht verschwiegen werden, in Ransmayrs neuem
Buch großartige Szenen: gleich zu Beginn etwa, wo geschildert
wird, wie ein Schwarm von Schmetterlingen, der von einem Luftzug
in die eisige Höhe gerissen wird, dort erfriert und dann
wie aschefarbener Schnee auf die Abenteurer niederregnet, die
im Labyrinth des weißen Eises umherirren; oder jene Episode,
in der sich die Wanderer einem Kloster in einem der Hochtäler
Tibets nähern und von weitem unzählige Gebetsfahnen
an den Hängen der gewaltigen Gipfel bemerken, die, wie sie
später erzählt bekommen, die Berge gewissermaßen
an die Erde nageln, damit die verletzlichen Menschen in ihrem
Schutz und Windschatten überhaupt zu leben imstande sind
und nicht mit der fruchtbaren Erde weggeblasen werden von einem
Planeten, der rauh und unwirtlich ist. Die Berge sind Sternenteile,
die sich einst hier niedergelassen haben, aber jederzeit wieder
entschweben können. Das glauben zumindest die Nomaden, in
deren Mitte die beiden irischen Flachländer den Weg in die
Höhe antreten.
Allerdings finden sich in Ransmayrs Buch auch Schilderungen, da
überschreitet die bewusste Archaik von Stoff und Ton die
Grenze zum Kitsch. Leider ist dies mitunter in der ansonsten eher
spröde und zurückhaltend geschilderten Liebesgeschichte
zwischen dem Ich-Erzähler und Nyema, der Nomadin, der Fall.
Von deren erster Liebesnacht müssen wir lesen: "[Ich]
roch nur den Rauch und die Nachtluft in ihrem Haar, das auf mich
herabfloß, als sie sich zu meiner Reiterin aufschwang und
zuließ, daß ich mich an ihren Brüsten festhielt,
so fest, daß ihre Milch, die doch Tashi ernähren sollte,
auf meinen Hals, auf mein Gesicht tropfte und mich in einen Rausch
versetzte." Brrrh! Hoffentlich ist der inzwischen zu Ende,
und Ransmayr erzählt uns demnächst wieder Geschichten
im Blocksatz.
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