Ein Klassiker pornographischer Lyrik
Ralf Junkerjürgen
Der französische Dichter Paul Verlaine (1844-1896)
gehört zu den großen Namen in der Lyrik des 19. Jahrhunderts.
Seine poetologischen Texte (Art poétique) und seine
melancholischen Herbstgedichte (Chanson d'automne) sind
wenigstens in Frankreich unverzichtbare Bausteine einer literarischen
Allgemeinbildung. Darüber hinaus wurden seine Bisexualität
und seine Liebesbeziehung zu dem jungen Arthur Rimbaud, die mit
einem Pistolenschuss endete, zu einem modernen Mythos, dem sich
auch die Filmindustrie nicht versagen konnte und den sie 2003
unter dem Titel Total Eclipse mit David Thewlis als Verlaine
und Leonardo DiCaprio als Rimbaud auf die Leinwand brachte.
Dass das Dichten und die Sexualität Verlaines sich auch in
einer ganzen Reihe pornographischer Gedichte durchdringen, ist
hingegen kaum bekannt. Selbst in der Pléiade-Ausgabe, die
in Frankreich den Status einer Nationalausgabe hat, wurden die
nach einem Ausspruch Verlaines als uvres libres bezeichneten
Texte verschämt in einem Anhang versteckt. Es handelt sich
dabei um die Gedichtzyklen Femmes (1889) und Hombres
(1891), denen 1907 noch die sechs sapphischen Sonnette Les
Amies beigestellt wurden.
Obwohl das Glück der Sexualität in der Wiederholung
liegt, gerät Pornographie doch leicht in den Takt eines monotonen
Rein-und-Raus. Verlaine entkommt dem schon durch die bisexuelle
Ausrichtung seiner Texte, die sich mal Männern, mal Frauen,
mal beiden zusammen annehmen. Seine Gesänge auf Hintern,
Brüste, Eicheln und Hoden sind gespickt von Detailbeobachtungen
und poetischen Metaphern, die sie zweifellos zu einem Klassiker
der Gattung machen. Die einzelnen Zyklen unterscheiden sich zudem
durch jene zwei Darstellungsmodi, die man heute üblicherweise
als Soft- oder Hardcore bezeichnet. So ähneln die sechs Sonette
lesbischer Liebe aus den Amies in ihrer verschleierten
Erotik den weichgezeichneten Photographien junger Mädchen
eines David Hamilton. Pornographisch im eigentlichen Sinne sind
hingegen Femmes und Hombres, in denen sowohl Hetero-
als auch Homosexuelles aus der Sicht eines lyrischen Ich beschrieben
wird. Sein Blick ist drastisch, aber niemals naturalistisch kühl,
sondern immer auch bildlich überhöht. Von daher steht
Verlaine zwischen der auf Metaphern fußenden Erotik des
Hoheliedes und den lakonischen Bestandsaufnahmen zeitgenössischer
Autoren wie Michel Houellebecq.
Der äußerlich ansprechend gemachte Band stellt das
französische Original einer neuen Übersetzung von Serge
Ehrensperger gegenüber. Lyrikübersetzung hat sich in
der Regel zwischen zwei Wegen zu entscheiden. Entweder folgt sie
den metrischen und rhetorischen Ansprüchen des Ausgangstextes
und vernachlässigt die inhaltliche Genauigkeit oder sie übersetzt
inhaltlich korrekt und vernachlässigt die sprachlichen Mittel.
Die bisher einzige vollständige Übersetzung der uvres
libres durch Curt Moreck (1888-1957) aus dem Jahre 1919 (Nachdruck
1986) dichtet in gereimten Versen nach und geht mit dem Original
dementsprechend freier um, wobei die Direktheit von Verlaines
Darstellungen meistens abgeschwächt wird. Dies gilt auch
für die 1921 in einem Privatdruck erschienene Übersetzung
des Zyklus' Femmes von Ferdinand Rodenstein. Serge Ehrensperger
hingegen entscheidet sich für eine wörtliche Übertragung,
die keine Rücksicht auf Gleichklänge nimmt, sondern
die Dinge bei ihrem vulgären Namen nennt.
Dies ist in der Geschichte der Verlaine-Übersetzungen zwar
innovativ, es stellt sich aber die Frage, ob es dem Dichtungskonzept
wirklich angemessen ist. Denn der Verzicht auf metrische und rhetorische
Mittel stellt einen großen Verlust dar, ist doch das Spiel
mit Klängen und Wortkörpern für Verlaine bekanntlich
Programm. In einem gewagten Enjambement trennt er z.B. "culte"
in "cul- / Te", um es auf cul ('Hintern') zu reimen,
oder er spielt mit den Wortkörpern von "gland"
('Eichel') und "galant". Dass man dies nicht nachahmen
kann, liegt auf der Hand. Aber es hätte in der großzügigen
Ausgabe genügend Raum für Anmerkungen oder Fußnoten
gegeben, von denen Ehrensperger leider fast gar keinen Gebrauch
macht. Wer des Französischen nicht mächtig ist, dem
gehen diese Raffinessen schlichtweg verloren. Das gilt auch für
versteckte Anspielungen. Einmal vergleicht Verlaine den Hodensack
mit Chagrinleder und verweist damit auf Balzacs berühmten
Roman La Peau de chagrin (1831), in dem eine schrumpfende
Eselshaut die menschliche Lebensenergie symbolisiert. Dass dies
bildlich gut in den sexuellen Kontext passt, leuchtet ein. Dass
Ehrensperger mit keinem Wort auf solche Bezüge hinweist,
ist ein Verlust für den Leser.
Einen weiteren grundsätzlichen Nachteil der wörtlichen
Übertragungen gibt Ehrensperger im Nachwort selber zu bedenken:
Die sexuellen Ausdrücke des Französischen klingen weniger
hart als die deutschen. Deshalb überrascht es, dass er mitunter
nicht weichere Synonyme verwendet. Wenn Verlaine alliterierend
von "culs et cons" spricht, klingt Ehrenspergers "Ärsche
und Fotzen" unangemessen hart. Auch die "tétins
d'infante" - der knospende Busen eines jungen Mädchens
- schwillt bei Ehrensperger auf ein paradox klingendes "kindliche
Titten" an. Verlaines niedliche "pine" der Lust
wird zu einem harten "Schwanz". Moreck hatte hier mit
"Piephahn" übersetzt, Rodenstein mit "Schwengel".
Offensichtlich war Ehrensperger nicht bei allen Texten gleich
inspiriert. Neben einigen genialen Fünden - z.B. "Eichelverse"
für "Balanides" (nach gr. balanos 'Eichel') oder
"arschlöcherig" für "trouduculier"
- steht eine Reihe von Ungenauigkeiten, darunter zum Glück
nur wenige Fehlübersetzungen: für "plafond"
('Zimmer-Decke') steht einmal 'Boden', ein anderes Mal fällt
Ehrensperger auf einen "falschen Freund" herein und
übersetzt "sans doute" ('wahrscheinlich') mit 'ohne
Zweifel', das aber "sans aucun doute" entspräche.
Manchmal geht Ehrensperger auch über die Bildlichkeit etwas
lässig hinweg. Wo der Deutsche nur einen "Hintern"
sieht, erkennt der Franzose zwei Backen und spricht daher im Plural
von "fesses". Verlaine kann somit die Doppelrundung
in Verwandtschaft zu den Brüsten setzen. "Fesses"
müsste folgerichtig mit 'Arschbacken' übersetzt werden
- Moreck spricht poetischer von "Hinterwangen" - Ehrensperger
aber entscheidet sich für den Plural "Ärsche, eigentlich
die großen Schwestern der Brüste" und verwischt
damit völlig das tertium comparationis.
Die trotz allem gelungene wortgenaue Übersetzung der uvres
libres stellt eine wichtige Leistung in der Geschichte der
Verlaine-Rezeption in Deutschland dar. Sie unterscheidet sich
von ihren Vorgängern gerade in ihrer drastischen Wörtlichkeit.
Aufgrund der Nachteile, die dieses Verfahren mit sich bringt,
sei sie jedoch vor allem Lesern ans Herz gelegt, die Französischkenntnisse
besitzen und zwischen Original und Übersetzung springen können.
Wer hingegen die Poesie dieser Texte nur im Deutschen genießen
kann, wäre mit der älteren Nachdichtung Curt Morecks
besser beraten.
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