Westfalen, Ostwestfalen
Rolf Birkholz
Wie der Topagent Ihrer Majestät sich gewöhnlich
als "Bond, James Bond" vorstellt, präzisiert Hans-Ulrich
Treichel, wenn es um seine Herkunftsregion geht: Westfalen, Ostwestfalen.
Wohl kein zweiter renommierter Schriftsteller kommt in seinen
Texten so oft auf Ostwestfalen zu sprechen wie der gebürtige
Versmolder. Er tut dies zwar wenig schmeichelhaft. Aber selbst
rhetorische Fragen wie "Verlangen nach Gütersloh?"
müssen ja erst einmal gestellt werden.
Der Titel seiner in den Essayband Der Felsen, an dem ich hänge
aufgenommenen Dankrede für den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis
2003 lautet bezeichnenderweise "Warum ich mich nicht nach
Westfalen sehne".
Das war für den 1952 Geborenen eine Gegend, wo "die
Runkelrüben regieren", ein "Raum ohne Geschichte",
ein "westfälisches Sibirien". Als Junge erlebt
er: "wo in Westfalen eine Wiese ist, da ist auch eine Lagerhalle
nicht weit." Und eine Umgehungsstraße. "Doch es
wurde mir mit den Jahren immer schwerer, an einem Ort zu Hause
zu sein, der sich vor allem dadurch auszeichnet, daß man
um ihn herumfuhr."
Die Teutoburger-Wald-Eisenbahn (TWE) wiederum, sein "Sehnsuchtsexpreß",
verbindet den Heranwachsenden wahlweise mit Ibbenbüren oder
Gütersloh. In beide Richtungen hat er die TWE bestiegen,
und jedes Mal war es "sehnsuchtsstrategisch" ein Fehler.
Als Treichel dann nach Berlin geht, ist ihm die Mauer "ein
ganz persönlicher antiwestfälischer Schutzwall"
vor der Heimat "depressiver Geopsyche".
Bei dieser Formulierung ahnt man, dass des Autors Landfurcht nicht
allein landschaftlich bedingt ist; sie ist auch familiengeschichtlichen
Ursprungs. Seine Eltern waren nach dem Krieg aus dem Osten geflohen,
hatten darüber aber nie reden können oder wollen. "Mein
Osten nannte sich Westen und lag in Ostwestfalen", so der
Sohn. Er ist aus diesem, seinem Osten, ebenfalls geflüchtet.
Ostwärts - ein unbewusstes Zurück? Auch er spricht nicht
darüber. Er schreibt.
Wie unter anderem aus solch geo-biographischen Antrieben Literatur
entsteht, hat Treichel in Lyrik und Prosa gezeigt. In diesem Band,
der seine Berichte und Besichtigungen in Von Leib und Seele
(1992) und Heimatkunde (1996) fortschreibt, behandelt er
unter anderem Motive, die in seinen Arbeiten immer wieder variiert
werden: die Herkunft, der verschollene Bruder, die Berliner Zeit;
dazu Reise- und Leseerlebnisse sowie Schreiberfahrungen ("am
Felsen hängen").
"Was haben Sie eigentlich gegen Ostwestfalen?", wird
er bei Lesungen gefragt. "Nichts", antwortet dann, verärgert
ob solch unliterarischen Fragens, ein "Autor meines Typs".
Aufgewachsen im "Niemandsland zwischen Bielefeld, Gütersloh
und Osnabrück", habe er sich als Kind oft nach Bielefeld
und Gütersloh gesehnt. Doch wenn er hingefahren sei, sei
es enttäuschend gewesen. "Am enttäuschendsten war
Gütersloh und am zweitenttäuschendsten Bielefeld."
Wer solche Sehnsucht auslöst, soll sich nicht beklagen.
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