Das gebrochene Wort
Rüdiger Wartusch
"Er wollte die Finsternis wiegen",
heißt es in diesem Gedichtband: "Die Lichtwaage hielt
er / zum Fenster hinaus. Den Arm, / den rechten, riß es
ihm ab. / Linkshändig schrieb er's auf." Keineswegs
ist dies mit links geschrieben; der Dichter ist ins Dunkle geklettert
wie ein Höhlenforscher, "die eigne / Tiefe auszuloten",
und hat gegen das Vergessen angeschrieben: "Wenn aber der
Baum / zu den Blättern sagt: ich geh, / und wir hängen
an ihm / und er läßt uns allein, / will ich anhänglich
ungehalten / bleiben an meinem Platz / sein Gedächtnis."
Die Erinnerung, auch an das Leiden, steht im Mittelpunkt, auf
sie konzentriert sich die Sprache. Das Losungswort ist noch immer
das "verwundbar / bleiben". Hier spricht ein im positiven
Sinne Verletzlicher, ja Verletzter, der sein eigenes Licht auf
die Welt wirft: "Es gilt das gebrochene Wort".
Da ist einer Professor für deutsche Literaturwissenschaft,
beschäftigt sich über viele Jahrzehnte mit Dichtung,
mit Gedichten zumal und der Sprache der Dichter, findet selbst
eine poetische Sprache, die sich bereits in wenigen kleinen Äußerungen
am Rand des wissenschaftlichen Werks kund tut - und geht erst
spät mit seinem Dichtertum an die Öffentlichkeit. Zunächst
in Zeitschriften wie dem Merkur, dann auch in einer lyrischen
Zusammenstellung für das Bücherhaus Bargfeld (Gedichte
Sprüche Zeitansagen), einer bescheidenen Form von Öffentlichkeit
also, mithin lediglich unter Kennern, die sich kennen. Erst 1996
erscheint eine größere Sammlung von Gedichten Peter
Horst Neumanns (Pfingsten in Babylon) und präsentiert
die Erscheinung eines neuen Dichters von sechzig Jahren.
Und nun liegt mit Die Erfindung der Schere ein überschaubares
Werk von drei Bändchen vor, dessen Umfang für viele
kaum mehr als eine Jahresproduktion darstellt: 200 Gedichte vielleicht,
viele davon aus dem ersten Band in den zweiten übernommen,
manche mit kleinen, poetisch nicht unbedeutenden Änderungen
veröffentlicht. Doch aus dieser Selbstbeschränkung,
ja Bescheidenheit, erwächst poetische Kraft. Es ist eine
"lyrische Lyrik", der man die Verbundenheit des Wissenschaftlers
Neumann mit Dichterikonen wie Celan, Brecht und Eich etwa deutlich
anhört - aber es ist stets eine eigene, eine objektive Stimme,
die privatissime in den Dialog mit den geliebten Dichtern tritt:
"Freier Vogelflug / über Eichendorffs Grab, dort / liegt
seine Sprache / begraben." Ein Hauch von Melancholie umweht
manches kleine Poem - und immer wieder der Mythos der Sprache,
ängstlich, aber hoffnungsvoll: "mein Fallschirm / mein
Gedicht", hieß das damals, und heute: "erschriebne
Welt / erlesne Wirklichkeit". Auch hier auf der Wortebene
diese gnomische Kürze und Zurückhaltung; das Spruchhafte
wird auf leichteste Weise verdichtet. "Ins Blaue / geschrieben",
wie der Ruf der Lerche, sind diese Verse sicherlich nicht. Das
Schwere und das Leichte vereinen sich hier im Wort.
A part gesprochen und pro domo: Ich gestehe, ich bin nicht immer
glücklich mit den Änderungen der Gedichte, d. h., weil
ja die Chronologie nicht eindeutig ist, mit den Buchfassungen.
Das Gedicht mit Divan-Bezug, wie es in der 8. Ausgabe der Zeitschrift
Griffel abgedruckt ist, weicht von der hier vorliegenden
Form deutlich ab, beide aber können nebeneinander stehen;
bei dem Gedicht Christliche Kunst hingegen scheint mir
die Fassung aus Griffel 7 ("Auf einem / der Bilder, nackt,
/ hab ich mich / zweimal erkannt, / in den beiden Schalen / der
Waage.") poetisch schlüssiger zu sein als diese ("nackt"
nach "erkannt"). Und, jetzt greife ich auf ein Typoskript
zurück, Klaus Kinskis Versuch, "der Garderobiere Männlichkeit
zu beweisen", ist wohl dem Dichter Peter Horst Neumann gemäßer;
Kinski entsprach das "die Garderobiere zu vögeln"
ganz sicher besser.
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