Am Erker 36

Ingo Schulze: 'Simple Storys'

Ingo Schulze: '33 Augenblicke des Glücks'

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Ingo Schulze
Berlin Verlag

 
Ingo Schulze

Im Gespräch mit Georg Deggerich und Rudolf Gier

Am Erker Nr. 36, Münster, Herbst 1998

"Für mich war die DDR einfach nicht literarisierbar"

Am Erker: Die neunundzwanzig Episoden Ihres Romans Simple Storys verlangen dem Leser einiges an Konzentration und Aufmerksamkeit ab und sind alles andere als simpel. Wie sind Sie zu dem Titel gekommen?

Ingo Schulze: Ich habe es immer gerne deutsch ausgesprochen, also simple Storys. "Simpel" ist ja ein deutsches Wort, und Storys mit y ist so, wie es im Duden steht. Ich denke, dass es ganz einfache, simple Begebenheiten sind, in die die Figuren geraten. Das, was da passiert, passiert in der ganzen westlichen Welt oder wo auch immer. Das Besondere an Ostdeutschland ist, dass die Leute von einer Woche auf die andere in eine solche Situation gekommen sind. Es ist ein Unterschied, ob man im Westen groß geworden ist oder ob man sich von einem auf den anderen Tag in einem anderen System wiederfand. Da sucht man natürlich nach Orientierung. Wenn ich im Westen eine Lesung habe, fragen die Leute immer: "Was ist denn das typisch Ostdeutsche daran?" Ich denke, die Situationen sind ähnlich, aber die Personen sind typische Ostdeutsche. Mir musste man auch erst erklären, was "cash" heißt und wie das mit der Mehrwertsteuer funktioniert - Dinge eben, die völlig simpel sind.

Am Erker: Sind die Figuren des Buches frei erfunden, oder gibt es für sie Vorbilder in der Realität?

Ingo Schulze: Man hat eine Konstellation, und daraus entwickelt sich etwas, und dabei denkt man natürlich an gewisse Schicksale. Da gibt es zum Beispiel jemand, der einen Lehrer rausgeschmissen hat und immer noch im Amt sitzt. Der Lehrer ist seit fünfzehn Jahren Hilfsarbeiter, wegen einer völligen Lappalie wie Kunderas Der Scherz oder Ähnlichem. Dem bin ich einfach mal nachgegangen und habe gefragt: Wie kommt denn so etwas? Die Leute wollten das ja auch erzählen. Man war schließlich beteiligt. Eine andere Geschichte, die von den Anglern, die ihren Fang nur fotografieren und wieder ins Wasser werfen, basiert auf einem Spiegel-Artikel, von dem mir Katja Lange-Müller erzählt hat. Ich habe gesagt: "Entweder schreibst du was darüber oder ich." Worauf sie nur sagte: "Mach du mal." Da ich in meinem Leben nie geangelt habe, bin ich dadurch zu Hemingway gekommen, weil ich etwas darüber lesen wollte. Ich habe mir sogar Anglerzeitschriften gekauft. In Stuttgart, wo ich bei Wendelin Niedlich war, habe ich tatsächlich die Froschmänner in der Einkaufszone gesehen, die Werbezettel für Nordsee verteilt haben. Die da drin steckten, werden ganz andere gewesen sein, als ich sie beschreibe. Aber diesen Werbezettel, das kann man gar nicht erfinden.

Am Erker: Ist das Buch von vornherein als Episodenroman konzipiert gewesen, oder sind die Geschichten nach und nach entstanden?

Ingo Schulze: Es klingt vielleicht komisch, aber ich hatte gar nicht vor, das Buch zu schreiben. Erst in dem Moment, wo ich anfing - das war im Sommer 1995, ich wollte etwas über den Osten erzählen und hatte die erste Episode entworfen - hatte ich diesen Tonfall im Ohr und habe erst einmal einfach draufloserzählt. Nachdem ich drei oder vier rudimentäre Geschichten hatte, dachte ich, dass es eigentlich ganz einfach wäre, sie miteinander zu verbinden; in so einer Kleinstadt laufen sich die Leute sowieso immer über den Weg. Aber die Keimzelle waren einzelne Episoden, auch wenn sich das manchmal schwer trennen lässt. Es hat sich gegenseitig vorangetrieben. Der Gesamtzusammenhang macht es meistens leichter, das Einzelne zu schreiben, und dadurch, dass das Einzelne Logik hat und sich das verband, ergaben sich Geschichten, die ich mir so hätte gar nicht ausdenken können. Ich glaube, dass man wirklich mehr davon hat, wenn man es als Kapitel liest. Beim ersten Lesen hat man neunundzwanzig Storys. Wenn man es ein zweites Mal liest, sind es neunundzwanzig Kapitel.

Am Erker: Gibt es ein Prinzip, nach dem die Geschichten zusammengesetzt sind? Wenn man die Reihenfolge ändern oder einzelne Storys weglassen oder andere hinzufügen würde, würde es vielleicht gar nicht auffallen.

Ingo Schulze: Man könnte es mit einer Spielanleitung vergleichen. In dem Moment, wo ich zwei Parteien hatte, die Schuberts und die Meurers, dann diese Holitzschek und die Geschichte mit dem Dachs und der Radfahrerin - da fragte ich mich: Wie verhält sich das jetzt zueinander? Man muss es ja irgendwie zusammenbringen. Das hätten durchaus auch andere Episoden sein können. Andererseits ist es nicht ganz zufällig, wie die beiden Männer enden. Ich bin erst Ende Januar mit dem Manuskript fertig geworden und bin eigentlich bis zum Schluss diesen Zusammenhängen hinterhergegangen. Das war für mich ganz schön, dass es so ein Eigenleben bekam, wo ich eben nicht festgelegt hatte, so und so wird das mal. Ich hatte mir ursprünglich vorgenommen, nur um irgendeine Vorgabe zu haben, zweiundzwanzig Episoden zu schreiben. Da war ich dann schnell drüber raus und war bei fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig war eine blöde Zahl, und es ging dann einfach so weiter. Als ich die neunundzwanzigste Episode fertig hatte, dachte ich: Das hat sich jetzt geschlossen. Wobei ich die Geschichten chronologisch nicht so geschrieben habe, wie sie jetzt angeordnet sind. Im Groben ist das Buch zwar so entstanden, aber mit einigen Sprüngen. Kapitel zwei ist beispielsweise erst ganz zum Schluss entstanden.

Am Erker: Wir finden, eine gute Geschichte sollte Anfang, Mitte und Ende haben. Wie ist das bei Ihnen?

Ingo Schulze: Dem könnte ich mich durchaus anschließen. Viele sagen, die Schlüsse sind so offen. Für mich ist der Schluss immer das Schwierigste. Aber ich denke, dass die Schlüsse nicht beliebig sind. Eigentlich ist es so: Man bringt etwas in Bewegung, dann verhakt sich das, und man folgt diesem Selbstlauf, natürlich mit den Erfahrungen, die man hat, und dann kommt die Frage: Wie kriege ich das jetzt zum Schluss? Ich denke, dass die Geschichten immer einen richtigen Schluss haben.

Am Erker: Die Simplen Storys sind ein Roman ohne Held. Könnte man sagen, der eigentliche Held ist die Situation, die Nachwendezeit, in die die Leute hineinstolpern?

Ingo Schulze: Mir geht es darum, etwas über einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit zu sagen. Letztlich ist ja noch gar nicht viel Zeit vergangen, es ist noch ganz frühe Vergangenheit oder noch fast Gegenwart, es geht ja bis 1997. Vermutlich wird man diese Zeit in zehn Jahren gar nicht mehr so splitterig sehen. Man wird dann über viel mehr Erfahrung verfügen und kann es dann mehr bündeln. In dieser Hinsicht hat das Buch durchaus Mängel, aber es war für mich genau das, was jetzt möglich war. Wie gesagt, ich wollte etwas über eine bestimmte Zeit, über einen bestimmten Ort ausdrücken. Die Personen entstanden eigentlich mehr aus Konstellationen. Es war nicht so: Da ist jetzt eine Person, die wird jetzt dieses oder jenes erleben, sondern ich hatte eine Situation. Und daraus entwickelten sich die Personen. Manche, die mir erst sehr nahe waren, entfernten sich und umgekehrt. Das habe ich dann im Rückwärtsgang wieder korrigieren und aufeinander abstimmen müssen. Ich hatte nie eine Konzeption von einer Figur.

Am Erker: Die Kritik hat oft behauptet, dass Sie Ihren eigenen Figuren sehr kalt und distanziert gegenüberstehen. Haben Sie diese Distanz bewusst als erzähltechnische Haltung aufgebaut?

Ingo Schulze: Viele Sachen werden aus der Ich-Perspektive erzählt. Es ist quasi wie ein Monolog. Zu dem "kalt" kann ich gar nicht viel sagen. Ich habe versucht, genau hinzugucken, und hatte einen Tonfall, der sehr vieles bedingte. Ich denke, man muss dann eben deutlich werden und sagen: Das hier empfinde ich als sehr kalt. Ich glaube nicht, dass ich irgendeine Person preisgebe als Ekelbolzen, sondern da ist immer noch eine Sache, über die man sich den Personen nähern kann. Ich glaube auch nicht, dass es zynisch ist. Manchmal denke ich, das ist nur eine Vermutung. Kälte wird verwechselt mit Genauigkeit. Selbst wenn man mit seiner Liebsten zusammen ist und genau analysiert, was sage ich, was sagt sie jetzt, dann kommen zum Teil sehr komische, teilweise abstruse Sachen hinein. Wenn man dann auseinandergeht und sich vielleicht sogar hasst, sind plötzlich die Sachen, die vorher gingen, genau die, wo es kracht. Es war einfach der Versuch, möglichst genau hinzuschauen. Außerdem war dieser Tonfall eine Vorgabe, nämlich nicht zu sagen: Er fühlte sich matt, er fühlte sich traurig, sondern zu versuchen, es über Bilder auszudrücken, z. B. über eine Colaflasche: Am Anfang steht sie, am Ende liegt sie da. Wenn es Literatur ist, dann merkt der Leser, mit dem ist irgendetwas, der ist umgekippt.

Am Erker: Die Figuren strahlen eine große Traurigkeit und Verlorenheit aus. Spiegelt das die Situation wider?

Ingo Schulze: Ja und nein. Es liegt jetzt so nahe, weil der Osten aktuell politisch in einer schwierigen Situation steckt. Aber ich habe gerade mit großem Vergnügen die Buddenbrooks gelesen, die enden ja auch nicht gerade optimistisch. Wenn man Berlin Alexanderplatz oder den Zauberberg nimmt, man kann in der Literatur eigentlich hinschauen, wo man will, es ist alles nicht so, dass man sagt: Hey, jetzt bricht eine neue Zeit an, prima. Andererseits sucht man nach Orientierungssystemen. Die Mauer war eine Entschuldigung für unglaublich vieles. Und nun ist man von heute auf morgen auf ganz neue Fundamente gestellt. Der eine kommt vielleicht besser damit zurecht als der andere. Die Möglichkeiten sind ungleich besser und schlechter. Das hängt mit sehr vielen Dingen zusammen. Natürlich gibt es da auch Erfolgsstorys. Aber letztlich, wenn man sich die Einzelschicksale anguckt, gibt es immer ein paar, die behalten den Kopf oben, auch wenn sie einen Haufen Mist erlebt haben. Ich denke da etwa an Marianne Schubert, die den Mann verliert und eine Krebsoperation hinter sich hat, aber immer noch für andere da ist. Im Grunde gibt keiner auf. Meurer fliegt zwar raus, aber auch er bekommt eine neue Perspektive. Es sind sehr unmittelbare Erfahrungen, die ich unter anderem auch durch die Zeitungsmitarbeit in Altenburg hatte. Wo ich plötzlich merkte: Da ist jemand, der kommt überhaupt nicht mit dem Neuen zurecht, der vielleicht nicht explizit ein Schuldbekenntnis von sich gibt, aber sich nicht mehr beteiligt bei der Verteilung der Posten, und das alles anhalten will. Ich denke, dass auch die Lakonie ein Versuch ist zu sagen: Ich nehme den Osten ernst, aber es gibt auch noch andere Probleme.

Am Erker: Zur Zeit der Wende waren Sie siebenundzwanzig. Welche Perspektive hatten Sie selbst damals?

Ingo Schulze: Für die Generation, der ich angehörte, war es der Zeitpunkt, wo man hätte loslegen können. Man hatte das Studium schon hinter sich, war am Theater. Ein Grund, warum ich nicht weggegangen bin, war, dass man sich sagte: Es können ja nicht immer alle weggehen. Es müssen ein paar für die Stunde X dableiben. Wobei das ziemlich illusorisch war, so richtig daran geglaubt habe ich auch nicht. Damals habe ich das Weggehen nie als einen Akt des Widerstandes empfunden. Ich habe gedacht: Da sucht sich wieder jemand eine Privatlösung. Ich war relativ früh, von September bis Oktober, beim Neuen Forum in Leipzig mit dabei. Das war das eine. Und dann mit Namen und Adresse diese Provinzarbeit in Altenburg. In dem Moment, als die Mauer fiel und die Welt aufging - ich war vorher nie im Westen gewesen -, begab ich mich in das Joch dieser Zeit. Weil wir dachten, wir müssen ein Stückchen Öffentlichkeit erobern, wer weiß, wie lange das geht, haben wir Ende November, Anfang Dezember unser unabhängiges Wochenblatt konzipiert und Mitte Februar herausgebracht. Schließlich wusste man, dass die SED/PDS ganz gute Werte bei den Umfragen hatte. Sechs Wochen später waren die Wahlen, bei denen das Neue Forum ganze zwei Komma sieben Prozent bekam, was wir nicht verstanden haben. Die Zeit war einfach so schnell, dass man völlig stumm wurde. Man hatte eine Zeitung herausgegeben, um was zu sagen, und plötzlich wusste man gar nicht mehr, was man sagen sollte.

Am Erker: In der Döblin-Preisrede sagen Sie, dass Sie während der Zeit der DDR literarisch kaum etwas zu Papier gebracht haben, weil die Sprache ideologisch so okkupiert war, dass man immer nur im "Als ob" erzählen konnte. Ist Ihr Werdegang als Schriftsteller erst nach dem Mauerfall möglich geworden?

Ingo Schulze: Wenn ich beispielsweise den russischen Konzeptualisten Viadimir Sorokin eher gelesen hätte, hätte ich in der DDR vielleicht auch schon richtig angefangen zu schreiben. Nicht, weil ich das alles für verloren gehalten habe, für mich war die DDR einfach nicht literarisierbar. Das kann aber mit vielen Dingen zusammenhängen. Vielleicht war man noch zu jung, man hatte einfach zu wenig erlebt, kannte zu wenig Literatur.

Am Erker: Die Simplen Storys wurden als der lang erwartete Wenderoman euphorisch gefeiert. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum das Buch so eingeschlagen ist?

Ingo Schulze: Ich dachte, die Simplen Storys erfüllen nicht gerade die Struktur eines Bestsellers. Es ist ja wirklich gar nicht so einfach, das Buch als Gesamtheit wahrzunehmen. Deshalb war ich sehr froh. Letztlich kann ich es gar nicht erklären, weil es allen Dingen zuwiderläuft. Ich glaube, der Erfolg hat sehr viel mit dem Thema zu tun ...

Am Erker: Die episodenhafte Struktur Ihrer Simplen Storys erinnert an neue amerikanische Filme wie Short Cuts von Robert Altman.

Ingo Schulze: Der Anstoß war Raymond Carver, den ich 1995 nicht zum ersten Mal las. Aber irgendwann macht so eine Sache 'klick'. Je öfter man Carver liest - das ist wie bei einem guten Gedicht -, desto mehr entdeckt man in den Geschichten. Short Cuts basiert auf den Storys von Carver. Dass Altman, was ich nie für möglich gehalten hätte, wirklich adäquat dazuerfindet und das umsetzt, war für mich die Idee, die Simplen Storys zusammenzubringen. Bei Altman geht es auch um einen Ort, und Dinge werden aus verschiedenen Positionen gezeigt. Das war mir als Ermunterung und Vergewisserung, so etwas selbst zu machen, sehr wichtig.

Am Erker: Von den Simplen Storys wird es ja auch bald eine Filmversion geben. Schreiben Sie selber das Drehbuch?

Ingo Schulze: Ich beteilige mich daran und arbeite mit Carsten Ludwig zusammen. Eigentlich ist er Theaterregisseur. Ich habe den besten Regisseur, den ich mir vorstellen kann, gefragt, und dass der nun zufällig für mich ein ganz enger Freund ist, erweist sich als Riesenvorteil, denn dieses Drehbuchschreiben ist elendig. Ich habe überhaupt kein Problem damit, etwas aufzugeben, schwierig ist vielmehr diese Arbeitshaltung, da man ständig an einem Zwischenprodukt arbeitet, d. h. es entsteht nie richtige Poesie, die dann Grundlage des Films wäre. Zudem ist man eben auch nicht der Hauptverantwortliche, sondern nur der, der etwas anbietet. Der andere sagt dann: "Du bist im Buch viel besser, komm, lass es jetzt." Ich habe nicht den Ehrgeiz, mal Regisseur zu werden. Ich denke immer literarisch und nicht so sehr filmisch. Der Hauptanteil beim Drehbuch wird bei Carsten Ludwig liegen. Aber wenn es ins Detail geht, bei den Dialogen, werde ich sehr viel zu tun bekommen.

Am Erker: In dem Roman tauchen viele Markennamen auf. Es ist zum Beispiel nicht von einem Putzmittel, sondern von Meister Propper die Rede. Ist das als Kritik an der Vereinnahmung des Ostens durch den Westen zu verstehen?

Ingo Schulze: Überhaupt nicht. Jetzt rauchen wir zum Beispiel dieselbe Marke. Da würde ich doch nie sagen: "Der raucht Zigaretten", sondern: "Der raucht Marlboro Lights." In der DDR warst du froh, wenn du ein Putzmittel oder Käse hattest. Natürlich gab es da auch Unterschiede, aber es war kein Vergleich zu jetzt. Ich habe das in der DDR gesehen und war ein Teil davon, und dann noch mal in Russland, wie die sich nach der ersten Waschmittelreklame darüber wunderten, dass es auch nicht besser wurde, als es vorher war. Irgendwie ist man doch ständig mit diesen Markendingen beschäftigt. Man liest überall, was auf der Verpackung steht. Und dann sagt man nicht, ich las Tabak, sondern ich las Drum. Es gehört irgendwie mit dazu. Hier, sehen Sie, Coke ...

Am Erker: Aber es hat nichts mit der Verdrängung der Ostmarken durch die Westmarken, mit dieser Konsumgesellschaft, die mit einem Mal über die ehemalige DDR rüberschwappte, zu tun?

Ingo Schulze: Ich habe überhaupt nichts dagegen, es in dieser Art und Weise zu deuten. Wenn der Text gut ist, ist er ja viel klüger als sein Autor. Das kann man, glaube ich, so lesen. Aber es war mir gar nicht bewusst. Man war ja froh, dass man das Zeug hatte. Die Leute haben in den ersten Wochen nicht mehr die einheimische Milch und Butter gekauft und wunderten sich nach drei Monaten, dass es das alles nicht mehr gab. Von der Tendenz her hat die Bundesrepublik den gesamten Konsumbedarf abdecken können, vielleicht hat man noch eine Schicht zulegen müssen. Innovationen wie das Opel-Werk in Eisenach waren ja eher politisch motiviert. '89 und '90 sagte man mir, "klar doch, Ingo, das Neue Forum ist ja ganz nett, aber wir wollen die DM jetzt. Wir sind fünfzig oder fünfundfünfzig, wir wollen etwas von unserem Leben haben, wir wollen keine Experimente mehr." Da musste ich sagen: "Okay, verstehe ich, würde mir vielleicht auch so gehen, nur arbeitet alles für den Ost-Export, wundert euch nicht, wenn eure Fabriken zumachen."

Am Erker: Der Sozialismus ist offenbar gescheitert. Ist denn die kapitalistische Konsumgesellschaft eine Perspektive?

Ingo Schulze: Ich glaube, die Bundesrepublik hat sich, was demokratische Spielregeln betrifft, durch die Hinzunahme des Ostens sehr verschlechtert. Jetzt muss der Kapitalismus niemandem mehr beweisen, dass er das bessere System ist. Er will nicht einmal attraktiv sein, es brauchen ja gar nicht mehr alle zu ihm überzulaufen. Ich habe jetzt auch so einen Wahlaufruf für die Grünen unterzeichnet. Aber ich fürchte mich immer auch vor den Leuten, die ich selbst wähle. Ich denke, man braucht keine sozialistische Utopie, ohne dass ich das ideologisch negativ bewerten will. Aber es ist heute eigentlich ziemlich klar, was gemacht werden muss, sowohl umwelt- und verkehrstechnisch, bei der Verteilung von Arbeit usw. Ich sehe einfach, es gibt ganz praktische Dinge, über die man sich jetzt unterhalten sollte. Auch wenn es sehr profan klingt: das Drei-Liter-Auto, ein ordentliches Eisenbahnnetz, das ist zum Beispiel sehr wichtig. Die DDR haben wir eigentlich immer von links kritisiert. Rudolf Bahros Buch Die Alternative haben wir uns aus dem Westen in Fertigkuchenpaketen schicken lassen. In der siebten Klasse haben wir Havemann-Kassetten in der Schule getauscht. Wenn man dabei erwischt worden wäre, wäre man raus gewesen. Ich war in Dresden an der Kreuzschule. Einige Kreuzianer waren öfter auf West-Tournee. Die kamen völlig perplex zurück und sagten: "Wir sind durchs Ruhrgebiet gefahren. Blauer Himmel!" Ich merkte einfach, dass der Sozialismus die Umwelt viel mehr kaputtmacht als der Kapitalismus.

Am Erker: Vergleicht man den Stil und die Erzählhaltung der Simplen Storys mit Ihrem ersten Buch 33 Augenblicke des Glücks, könnte man meinen, dass es gar nicht ein und derselbe Autor geschrieben hat. In der Döblin-Preisrede sagen Sie, dass Sie Döblin dafür bewundern, mit jedem Buch ganz von vorne angefangen und einen eigenen Stil entwickelt zu haben. Schwebte Ihnen auch so etwas vor?

Ingo Schulze: Ich war schon fast fertig mit den Simplen Storys, als ich mich - Gott sei Dank - mit Döblin auseinandersetzen musste, damit ich das auch richtig formulieren konnte. Mich hat überhaupt erst zum Schreiben gebracht, dass ich aufgehört habe, nach dem unverwechselbaren Sound zu suchen, sondern zu sagen: Wie geht's denn überhaupt?

Am Erker: In den 33 Augenblicken des Glücks bin ich über zwei Stellen gestolpert, in denen der Staatssozialismus verteidigt wird. Einmal ist da dieser Arbeiter Petrowitsch, der sagt: Ihr müsst bescheiden sein, schaut mal, eure Wohnungen sind warm. Später tritt eine Altkommunistin auf, die die alte Strategie des Opferbringens für den Sieg des Sozialismus vertritt. War das Ironie oder eine Wiedergabe von Stimmungen in St. Petersburg?

Ingo Schulze: Die Leute werden durch das, was sie sagen, charakterisiert. Wenn sie mit Stalin-Bildern rumlaufen, erzählen sie eben auch genau das. Man kann das immer nur so wiedergeben und an eine bestimmte Stelle rücken, dass man merkt: Das ist es nicht ... Eigentlich habe ich diesen Riesenanspruch immer toll gefunden. Aber dann gab es Leute, die so nebenbei sagten: Jelzin ist der Anführer des Zionismus, und plötzlich brach ein ungeheurer Antisemitismus aus. Genau diese Leute, die einen fertigmachten, hatten wir auch in der DDR: "Warum wirst du denn nicht Offizier? Die Arbeiter- und Bauernmacht ist doch bedroht? Bist du nicht für den Frieden?" Das war immer so eingebettet in einen ganzen Brei von Märchenentwürfen. Dieser unglaubliche Anspruch damals war völliger Nonsens. Man denke nur an die riesige Diskrepanz zu dem Glücksgefühl, wenn man in die Badewanne gehen kann, weil es endlich mal wieder warmes Wasser gibt. In der Sowjetunion sind in den DreißigerjJahren Millionen verhungert, und in der Presse las man von den Erfolgen des Sozialismus.

Am Erker: In den 33 Augenblicken des Glücks ist von Glück wenig zu spüren. Ist der Titel ironisch, oder habe ich das Buch nicht aufmerksam genug gelesen?

Ingo Schulze: Ich glaube, wenn man es Stück für Stück durchginge, könnte man schon Glücksmomente zeigen, aber es ist wahrscheinlich nicht das Glück der meisten Leser oder auch meins. Es gibt sehr unterschiedliche Glücksauffassungen. Ich denke, dass das Glück eine frei konvertierbare Währung ist, in der man das Leben aufrechnen kann. Letztlich geht es darum, dass man irgendwie glücklich ist, was ja nicht heißt, dass es im Gegensatz steht zu Verantwortung oder Hilfe.

Am Erker: Einige Episoden sind fast groteske Gewaltphantasien. Beispielsweise dieses Massaker in der Disko. Ist das ein Reflex auf den Zerfall der Sowjetunion?

Ingo Schulze: Zum einen geht es um die abenteuerlichen Aufzeichnungen von Deutschen in Petersburg. Manchmal denke ich, ich kann mehr sagen über die Vorstellungen der Deutschen über Russland als über Russland selbst. Auf der anderen Seite ist es ganz einfach so, dass Deutschland oder die westliche Zivilisation es sich leisten kann, ihre Schweinereien eher im Badezimmer oder im Wohnzimmer als in der Öffentlichkeit zu veranstalten. In Russland spielt sich alles viel mehr im öffentlichen Raum ab und ist immer irgendwie maßloser. Was die Schilderung von Brutalität angeht, bin ich im Vergleich zu den jungen russischen Schriftstellern wirklich ein Waisenknabe.

Am Erker: Sie arbeiten an einem neuen Roman über einen pubertierenden Jugendlichen im Dresden der Siebzigerjahre. Geht es darin um Sie selbst?

Ingo Schulze: Ich muss gestehen, die ersten beiden Bücher hatte ich nie vor zu schreiben. Aber in dem Moment, wo ich dransaß, kam mir die Idee, mehr daraus zu machen. Jetzt bin ich wieder da, dass ich sage, jeder hat in seinem Leben ein paar Punkte, die wichtig sind. Für mich ist das die Pubertät, wo man das erste Mal als Ich mit diesem System konfrontiert war. Wo man als Vierzehnjähriger in den Keller der Schule gebeten und gefragt wurde: "Warum wirst du nicht Offizier?" Und der Banknachbar ist Wehrdienstverweigerer. Solche abstrusen Situationen, in denen man Hermann Hesse liest wie eine Anleitung zum Leben. Eine Zeit der Suche, wo eine Woche so lang erscheint wie jetzt ein Jahr. Das ist etwas, worüber ich was sagen möchte. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Aber es ist ein Punkt, über den ich eine gewisse Notwendigkeit, etwas zu sagen, verspüre. Das Zweite ist die Armeezeit. Das waren die achtzehn Monate zwischen 1981 und 1983. Ich war in Oranienburg in den alten SS-Kasernen untergebracht, und man blickte immer auf den alten KZ-Wachturm. Dann kam die Polenkrise, und wir wussten nicht, ob wir jetzt zur brüderlichen Hilfe ausrücken würden. Und dann natürlich der Herbst '89. Eigentlich sollte schon das erste Buch über die Armee werden, dann das zweite. Ich dachte, spätestens das dritte Buch wird über die Armee. Jetzt taste ich mich über einen Umweg da heran, aber wer weiß, vielleicht wird es erst das vierte. Vielleicht schreibe ich ja doch bloß wieder Erzählungen. Wer weiß?