Timm Ulrichs
Am Erker 33, Münster 1997
"Das kann ich auch - vielleicht sogar noch besser!"
: Eine Ihrer ersten Arbeiten hat den Titel Erstes lebendes Kunstwerk. Sie haben sich in eine Glasvitrine gesetzt und sich selbst ausgestellt. Ist der Mensch Timm Ulrichs eine Kunstfigur, ein Kunstwerk?
: Diese 'Arbeit' ist in den frühen sechziger Jahren entstanden. Zunächst habe ich eine Visitenkarte gedruckt mit dem Text Timm Ulrichs, Erstes Lebendes Kunstwerk, 1961. Alsdann habe ich meine Wohnung katalogisiert, mich selbst inbegriffen. Die "Zimmergalerie Timm Ulrichs" gibt es noch heute, und sie wird regelmäßig im Belser Kunstquartal angekündigt mit - oftmals fiktiven - konzeptuellen Ausstellungen. Die Selbstausstellung in den eigenen vier Wänden hat mir aber damals nicht gereicht; es musste zu einer richtigen Ausstellung in offiziellem Rahmen kommen. Ich habe dies 1965 bei der "Juryfreien Kunstausstellung" in Berlin versucht, einer Schau, die eigentlich nur für Berliner Künstler gedacht war, und so habe ich eine Berliner Deckadresse angegeben. Aber dennoch bin ich bei der "Juryfreien" im Nachhinein ausjuriert worden - ein einmaliger Fall. Geklappt hat die Sache dann ein Jahr später in Frankfurt; dort habe ich fünf Tage in einem Glaskasten verbracht. Etwa 1970/72 war diese Aktion für eine Sonderschau der Biennale Venedig vorgesehen; Dietrich Mahlow von der Kunsthalle Nürnberg sollte sie organisieren. Aus irgendwelchen Gründen fiel diese Ausstellung ins Wasser, zu meinem großen Bedauern, denn in den folgenden Jahren - und bis heute - haben sich noch zahlreiche andere Künstler selbst als Kunstwerke ausgestellt und meine Idee für sich in Anspruch genommen. Erst jetzt, nach weitaus mehr als dreißig Jahren, wird meine Urheber- oder Vorläuferschaft gesehen und mehr gewürdigt.
Wenn man historisch weiter zurückgeht, muss man natürlich die Theorien des Ready-made oder des Fundobjektes, des objet trouvé mitbedenken. Ich habe mich immer gefragt: Warum erklärten die Dadaisten oder Surrealisten alle möglichen Gegenstände zur Kunst, ohne das auswählende Subjekt in den Mittelpunkt zu rücken? Also warum sollte man es nicht auf die Spitze treiben und das Kunst setzende Ich nicht ins Zentrum eines Werkes stellen, an dem schließlich ein Leben lang gearbeitet wird. Ein einzelnes Kunstwerk im üblichen Sinne hat man vergleichsweise schnell fertiggestellt; derartige Produktionen sind aber nur Abfallprodukte der lebenslänglichen Arbeit am eigenen Bewusstsein. Ich habe aus all solchen Gedanken die Konsequenz gezogen: Nicht nur ein vereinzeltes Objekt, eine einzelne Aktion, eine entäußerbare und veräußerbare Handlung sollte jetzt das Kunstwerk sein, sondern ich bin mein Werk, mein Lebens-Werk, mit allem, was damit zusammenhängt. Das bedeutet ja nicht nur, sich in einen Glaskasten zu setzen - damit hält man sich an die tradierten Spielregeln des gegebenen Kunstrahmens. Es kommen vielmehr all die Dinge hinzu, die sich mit meiner Person verknüpfen. Als Lebensaufgabe ist die Selbstausstellung sicherlich nicht ausreichend; unterfüttert mit Theorie und weitergehender Praxis wird daraus ein anspruchsvolles autobiografisches Lebensexperiment.
: Wie sind Sie dazu gekommen, Künstler zu werden?
: Künstler hatte ich eigentlich schon immer werden wollen, ohne aber zu wissen, wie ich dies anstellen sollte. In den fünfziger Jahren nämlich realisierte Kunst sich ja noch weitgehend in Leinwandbildern und Stein- und Bronzeplastiken. Als ich aufwuchs, waren Tachismus und Action Painting en vogue, zudem gab es allerorten informelle und figurative Skulptur. Alles gab sich sehr seriös und wurde in einer vergleichsweise kleinen Kunstszene abgehandelt. Die explosionsartige Ausweitung der Künstlerschaft und des Kunstmarktes, die die heutige Situation kennzeichnet, war damals noch nicht erkennbar.
Als Schüler stöberte ich häufig in der Bremer Stadtbücherei herum, und dabei fielen mir die ersten Dada-Anthologien in die Hände, die Mitte der fünfziger Jahre vornehmlich in Schweizer Verlagen erschienen waren. Was ich da las, hat mir gewaltig imponiert, und ich habe mir alle Dada-Bücher, die es im deutschsprachigen Raum gab, gekauft: Da fand ich, was ich bewusst-unbewusst suchte. Ich war, wie gesagt, noch Schüler, und Aneignung bedeutete da noch eher Nachahmung und weniger Anverwandlung. Meinen Eltern hätte ich natürlich nicht sagen können: Ich möchte Künstler werden, gar dadaistischer Künstler. Das hätten sie nicht verstanden. Sie haben darauf gedrängt, ich solle einen "anständigen" Beruf ergreifen. So entschied ich mich für Architektur; sie verknüpft und versöhnt, so dachte ich, Kunst mit Technik. Das also müsste doch etwas Interessantes für mich sein; von Bauhaus und de Stijl war ich sehr angetan - der Kehrseite der dadaistischen, der chaotischen Medaille. Mich faszinierten dabei nicht so sehr die inneren Strukturen der Architektur, sondern die Fassaden, die schneeweißen Wände und Mauerschalen; ich begriff Architektur - allzu äußerlich - als Bildform und Skulptur.
Von 1959 bis 1966 studierte ich Architektur an der Technischen Hochschule Hannover, und immerhin habe ich nach zwölf Semestern mit Ach und Krach das Vorexamen geschafft. "Vorexamen" klang, aus der Sicht meiner Mutter, fast wie "Examen", und als ich meine noch heute andauernde Kunst-Pause einlegte, konnte sie sich beruhigen: Falls der Versuch als freier Künstler - frei wovon? Frei wozu? - scheitern sollte, konnte ich reumütig zur Architektur zurückkehren. Schon während der Studienzeit hatte ich mich intensiv praktisch mit Kunst befasst. Seit Anfang der sechziger Jahre veröffentlichte ich in literarischen Studentenzeitschriften wie dem Frankfurter Diskus, dessen Kulturteil Karl Riha, Peter Iden und Ror Wolf (unter dem Namen Raoul Tranchirer) bestimmten, später auch, durch Vermittlung Jürgen P. Wallmanns, im Münsteraner Semesterspiegel. Die Möglichkeiten, bei Kunstausstellungen mitzumachen, waren vergleichsweise dürftiger. Neben Beteiligungen an Übersichtsausstellungen zur konkret-visuellen Poesie konnte ich 1965 beim Wettbewerb "Kunstpreis Junger Westen" in Recklinghausen und im selben Jahr an der "Großen Kunstausstellung München" teilnehmen. Nach Abbruch meines Studiums habe ich meine Ausstellungsaktivitäten erheblich forciert, und 1970 hatte ich eine große Retrospektive im Haus Lange in Krefeld unter seinem damaligen Leiter Paul Wember. Diese Ausstellung - bis heute meine mir wichtigste - war sehr erfolgreich und hatte - nach Verlängerung - mit fünf- bis sechstausend Besuchern einen überdurchschnittlichen Zuspruch. Der zweite, noch größere Glücksfall meines (künstlerischen) Lebens war sicherlich die Professur hier in Münster. Als meine Mutter ein halbes Jahr nach der Berufung sich zum Sterben legte, konnte sie sich beruhigt sagen: Der Junge ist jetzt versorgt.
: Ende der fünfziger Jahre brachten Sie den bombastisch klingenden Begriff "Totalkunst" ins Spiel.
: Normalerweise wird jemand deswegen Maler, weil er meint, sein Talent liege in eben diesem Bereich; für Bildhauer, Musiker, Schauspieler oder Tänzer gilt das Gleiche. Ich aber hatte an mir keine herausragenden Stärken bemerkt, lediglich einen diffusen 'Ausdruckszwang'. Eine bestimmte Richtung war mir überhaupt nicht klar. Ich hatte keine Kunstakademie besucht und während des Architekturstudiums nur das obligatorische Malen und Zeichnen absolviert; künstlerisch war ich in keiner Weise trainiert, und alles, was ich mir in der Folgezeit angeeignet habe, habe ich autodidaktisch mir beigebracht. Zu Beginn der sechziger Jahre versuchte ich mich in visueller oder konkreter Poesie. Es gab da bereits Autoren wie Eugen Gomringer und Helmut Heißenbüttel, und ich dachte mir: Das kann ich auch - vielleicht sogar noch besser! Ich hatte ein Faible für Wortspiele, und es ist mir nicht schwergefallen, typografische Kabinettstücke mit der Schreibmaschine hinzukriegen. Dennoch - auch nachdem Max Bense mich seiner "Stuttgarter Schule" zurechnete und einen Textband von mir herausgab - hätte ich mich nicht als Schriftsteller bezeichnen mögen. Und da ich mich nicht spezialisieren und kategorisieren konnte, habe ich einen großen Bogen geschlagen und einen Oberbegriff gewählt, unter den alles passt: Totalkunst. Damit war weder eine bestimmte Art und Weise des Ausdrucks oder Stils vorgegeben, noch eine bestimmte Kunstgattung oder Technik gemeint. Totalkunst: Das konnte, das kann alles Mögliche sein! Natürlich bin ich beeinflusst vom Auch-Hannoveraner Kurt Schwitters und anderen Dadaisten, etwa Raoul Hausmann, mit dem ich noch brieflich guten Kontakt hatte. Die fünfziger, sechziger Jahre waren, ähnlich wie die zwanziger Jahre, eine Zeit der Manifeste - heute wagt niemand mehr, sich derartig zu manifestieren, um sich nicht lächerlich zu machen; und so bin ich 1964 zur vierten documenta nach Kassel gefahren, kofferweise Manifeste im Gepäck: "Wollt ihr die totale Kunst?", "Was ist Kunst? Eine endgültige Stellungnahme", "Totalkunst: das neue Maß aller Dinge". Das habe ich den Leuten in die Hände gedrückt und große Sprüche gemacht, zudem noch weitere Begriffe in die Welt gesetzt: "Banalismus", "Extemporismus" oder "Panartistik" und andere mehr. Ich habe immer neue Schlagworte lanciert, es konnten gar nicht genug sein. Hinter lauten Parolen und paradox klingenden Begriffen kann man sich, so habe ich bemerkt, in aller Öffentlichkeit gut verstecken. Im Grunde genommen bin ich ja ein schüchterner Mensch. Ein Beispiel aus der Tanzstunde: Zu meiner Zeit standen die Jungs auf der einen, die Mädchen auf der anderen Seite des Übungsraums; in der Mitte die Tanzschullehrerin mit ihrer Trillerpfeife. Auf ihr Kommando hin schossen die Jungs auf die Mädchen zu und drängten sich um die Hübschesten. Mir war das alles furchtbar peinlich, und schweißgebadet habe ich mich den Mauerblümchen genähert. Beim Abtanzball wurden die Partnerinnen verlost, und ich habe eine der Schönsten abgekriegt. Sie war ganz entsetzt, und nach dem Pflichttanz hat sie sich sofort den anderen schicken Jungen zugewandt. Da habe ich mir gedacht: Na, wartet nur! Eines Tages zeig' ich's euch.
: Wie spiegelt sich in Ihrer Kunst das Verhältnis von Kunst zu Gesellschaft?
: Wer sich direkt, sozusagen mit Herzblut äußert, macht sich leicht angreifbar, und es ist schwierig, sich offen, offenherzig an die Öffentlichkeit zu begeben. Entwickelt man dagegen formalistischere, theatralische Kunstformen, liefert man sich weniger aus. "Sind Sie Exhibitionist, weil und wenn Sie sich ausstellen?", haben mich Leute gefragt. Wäre ich 'richtiger' Exhibitionist, der sich in Parks herumtreibt und Aufmerksamkeit durch Entblößung erzwingt, würde die Polizei mich vielleicht stellen, mich peinlichen Verhören unterziehen und bestrafen. Unter dem Deckmantel der Kunst aber kann ich (fast) alles machen, was ich will. So gesehen ist Kunst für viele und vieles ein gesellschaftliches Überdruck- und Notventil. Sie ist nicht nur dazu da, experimentelle Formen auszutesten, die eines Tages vielleicht sogar allgemein verbindlich werden, sondern sie gestattet auch Individualformen, die anders sich nicht ausleben können. Nun bin ich nicht gerade ein Triebtäter oder zwanghafter Mensch, der seine Obsessionen unter dem Schutzschild der Kunst praktizieren muss - dazu bin ich zu beherrscht, zu wenig emotional bedrängt -, aber grundsätzlich finde ich schon bedenkenswert, dass in Kunst sich oft das flüchtet, was anders nicht geduldet wird. Damit ist allerdings eine gewisse Ghettoisierung verbunden: Die Gesellschaft gewährt den Künstlern und den Verrückten einen Freiraum, in dem sie sich austoben dürfen, ohne dass aber eine Verbindlichkeit zu gesellschaftlicher Rückbindung besteht.
: Wie ist Ihr Verhältnis zur Ironie?
: Kunst ist immer Weltanschauung, und zwar zunächst in dem Sinne, wie ich es sehe: "Welt-Anschauung" mit Bindestrich geschrieben; Kunst also als Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt, ausgehend von physiologischen Tatsachen und Bedingungen und nicht überfrachtet mit Philosophie oder Theologie. Wenn man erkannt hat, dass alle Theorien, alle Weltbilder nur Konstruktionen, Erklärungsmodelle sind, kann man sie nicht so sehr wichtig nehmen und als endgültige Wahrheiten behaupten. Fast alle Religionen leiden darunter, dass sie sich in ihren Wahrheitsfindungen extrem überschätzen und daher ihre Glaubenssätze aggressiv zu verbreiten trachten. Angesichts der vielen Besserwisser bleibt Ironie die vielleicht einzige - weil relativierende - Form, in die man Ideen kleiden kann.
: Dazu fällt mir Ihr "Raum-Koordinaten-Raum" ein, der 1975 hier in Münster im
Landesmuseum zu sehen war. Es handelt sich um einen Raum, in dem die X-, Y- und Z-Achsen der Geometrie ausgelegt sind.
: Die Koordinaten sind aus Stahlwinkeln gebildet; der Raum ist ansonsten leer. Solche Raumachsen gibt es ja nicht wirklich, und dennoch liegen sie plötzlich da als materialisierte Symbole: eine absurde Situation.
Ähnlich verhält es sich mit meinen Fluchtpunkt- und Schwerpunkt-Objekten. Seit der Renaissance sprechen wir von Fluchtlinien und Fluchtpunkten, aber dies sind natürlich nur Projektionen des Geistes, damit wir uns brauchbare Bilder von der Welt machen können - das vergisst man leicht. Solche Punkte sind nichts weiter als fiktive, mathematische Größen, sie haben keine Fläche und sind eigentlich nicht handhabbar, es sei denn in der Kunst.
: Eine Ihrer Arbeiten bezieht sich auf das bekannte Magritte-Bild Dies ist keine Pfeife. Sie haben der Abbildung einer Pfeife eine richtige Pfeife hinzugefügt.
: Von allen Bildern, die Magritte gemalt hat, ist das Pfeifenbild das schlagendste in seiner Simplizität und (vermeintlichen) Eindeutigkeit. Es gibt womöglich bessere, magischere Bilder von Magritte. 1928, als er es gemalt hat, war es aber ganz auf der Höhe der Zeit. Es galt, ein nichtmetaphorisches Bild zu realisieren, das dennoch auf Metaphorisches verweist. Der Maler hat es 'unmalerisch' gemalt, es sieht so aus, als sei es gar nicht gemalt, sondern fotografiert. Es erinnert an Unterrichts-Schautafeln für Kinder. Vierzig Jahre später hat sich, so dachte ich, die Magrittesche Lektion erübrigt, und man könnte nun, indem man eine 'richtige' Pfeife (also das mögliche Vor-Bild) wieder hinzugibt, das Bild gleichsam zum Verschwinden bringen.
: Das Pfeifen-Objekt verdeutlicht einen wichtigen Aspekt: In Ihren Arbeiten gibt es kaum Darstellungen, die für etwas anderes stehen, sondern man sieht häufig nur das, was konkret da ist.
: Die Beschränktheit und Begrenztheit des Sichtbaren erkennt man schon daran, dass man die eigenen Augen nicht sieht. Wer das begriffen hat, kann kaum noch mit Gewissheit sagen: 'Ich sehe das so!' Wenn nicht einmal die Augen sich sehen können, muss es doch ziemlich schlecht mit der Wahrnehmung bestellt sein; und wenn bereits die Selbstwahrnehmung nicht funktioniert, wie soll es dann funktionieren mit dem, was jenseits unseres Wahrnehmungsapparates liegt? Es gibt eine schöne Zeichnung von Saul Steinberg, auf der ein Kopf im Profil zu sehen ist, und hinter den Augen dieses Kopfes hockt ein Hase und guckt aus diesen Augen hinaus. Ist das Ich, das die Welt anschaut, in meinem Kopf, und guckt es durch die Löcher, die wir Augen nennen, oder sind die Augen bereits das Ich? Sehe ich nur das, was die Augen erkennen können? Oder projiziere ich ein Bild nach außen nach Maßgabe dessen, was die Augen für möglich halten? Oder saugen wir die Bilder mit den Augen, durch die Augen-Schleusen ein? Man kann natürlich sagen, was richtig ist, sei letztlich egal, es komme mehr darauf an, wie wir uns dazu stellen. Wir verhalten uns ja auch so, als gäbe es Farben, obwohl wir wissen, dass das nicht stimmt: Es gibt ja nur Wellenlängen des Lichts, die uns irgendwie farbig erscheinen.
: Auf ein ähnliches Phänomen verweisen Ihre Landschafts-Epiphanien. Es handelt sich dabei um entwickelte Anfangsstücke von Diapositivfilmen, die unabsichtlich mitbelichtet werden. Es sind eigentlich nur chemisch-physische Zufallsprodukte. Aber der Betrachter entdeckt darin Landschaften.
: Wir sehen immer interpretierend. Nicht-intentionales, nicht-projektives Sehen ist gar nicht möglich. Jede Äußerung, die wir machen, ist in Vorurteilen befangen. Im Grunde müsste eine höhere Instanz alles, was wir meinen, als un-objektiv zurückweisen. Aus dieser Lage kommen wir nicht heraus. Aber vielleicht ist das auch gar nicht entscheidend. Viel wichtiger scheint mir, dass man das, was man zu wissen glaubt, auch lebt, das heißt: Es muss in den Haushalt der täglichen Gedanken und Gefühle, in das alltägliche Verhalten eingehen. Ich will nicht behaupten wollen, je Neues entdeckt zu haben; ich versuche nur, einprägsame Bilder für das zu finden, was womöglich uralt ist. Diese Bilder aber sollten so einleuchtend sein, dass sie den Betrachter intensiv berühren und das, was zunächst nur gewusst wurde, zu einer bedeutsamen Erfahrung werden lassen.
: Sie haben einmal gesagt: "Texte sollen einlösen, was sie versprechen. Sie sollen wirklich konkret werden." Lösen analog dazu auch Kunstwerke ein, was sie versprechen?
: In Jonathan Swifts Roman Gullivers Reisen begegnet man einer Akademie der Projektemacher. Da wird unter anderem eine Gegenstandssprache vorgeschlagen. Die sie Praktizierenden tragen die Dinge, über die sie sprechen wollen, mit sich herum und zeigen sie im Akt des Gesprächs einander vor. Es gibt natürlich ein gewichtiges Argument gegen solche Umgangsformen: Das derart vergegenständlichte Wissen ist zu schwer, man kann nicht alles mit sich herumschleppen. Die Sprache ist, nicht erst seit Swift, immer abstrakter - und damit leichter - geworden. Ähnlich verhält es sich mit der 'Sprache' des Geldes: Zunächst gab es den Tauschhandel; Waren wurden realiter ausgetauscht. Auch die frühen Formen des Geldes waren zunächst vergleichsweise gegenständlich, bis statt Muscheln oder Gold bloßes Papier genügte; und heute werden Bankgeschäfte fast nur noch elektronisch abgewickelt, man braucht kein Bargeld mehr. Mit Sprache verhält es sich ebenso. Sie hat sich immer stärker von den Gegenständen und Tatsachen, die sie bezeichnet, entfernt, so dass oft nicht mehr klar ist, wovon gesprochen wird. Ja, man könnte gar das Gemeinte vergessen, und die Sprache ginge dennoch weiter, auch dann noch, wenn es gar nichts mehr gäbe, über das gesprochen werden müsste. (Auch wenn die Künste ausstürben, die Kritiker würden weiterreden.) Das ist manchmal so absurd, dass es mir nötig erscheint, daran zu erinnern, dass Sprache einst ein Verständigungsmittel war, dessen Menschen sich aus ganz bestimmten Gründen bedient haben. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise mein überdimensionaler Würfel-Text "Würfel" aus dem Jahr 1964 zu sehen. Es handelt sich dabei um einen großen Würfel, der auf seinen sechs Seiten die sechs Buchstaben des Wortes "Würfel" trägt. Der Text wird zu einem Objekt, zu einem Objekt-Würfel bzw. Würfel-Objekt. Man kann mit dem Wort "Würfel" also tatsächlich würfeln. Ich erhoffe mir damit, dass die hier eingelöste Verschwisterung von Sprache und dem, was sie bezeichnet, als ein Ideal-Fall erkannt wird, der in der täglichen Sprachpraxis kaum je noch vorkommt.
: Das heißt, Sie misstrauen der Sprache als Zeichenträger?
: Was mich stört, sind die unbefragten Konventionen und Normen, die auch unsere Sprache regeln. Konventionen haben durchaus auch ihren Sinn, das will ich gar nicht bestreiten. Wenn ich zu Ihnen ins Haus komme, halte ich mich aus guten Gründen an vereinbarte Umgangsformen, damit wir konfliktfrei miteinander verkehren können; es wäre ja töricht und kindisch, jede Regel aufbrechen und aus Trotz oder Besserwisserei alles ganz anders machen zu wollen. Wie gesagt: Es gibt Konventionen, die durchaus sinnvoll sind, weil gesellschafts- und friedensstiftend. Aber man sollte sich vor Augen halten, dass all diese Absprachen jederzeit überprüfbar und durch andere, bessere ersetzbar sein müssen; alles ist einem ständigen Umwandlungsprozess unterworfen und nichts ein für allemal gegeben.
Ich bin als Künstler nichts Besonderes, und ich tue nichts Besonderes. Was ich unter dem Etikett 'Kunst' veranstalte, macht eigentlich jeder im täglichen Leben: Ich betreibe vergleichende Verhaltensforschung, und da beginne ich bei mir selbst als erster Person, mit der ich unablässig konfrontiert bin. Ich benötige nicht, wie viele Maler und Bildhauer noch, ein (Akt-) Modell, eine Bezugsperson für meine Kunst; ich kann - als meine eigene Versuchsperson - alles mit mir selbst abhandeln; schließlich geht es mir ja um die Erfahrungen am eigenen Leibe. Im Grunde versuche ich nur, das Alltägliche immer wieder neu zu überprüfen und zu entdecken und mit (womöglich) anderen Augen zu sehen, wie ein Kind, das vor Neugier und Forschungsdrang nicht aufhören will zu fragen: "Woher kommen wir, was sind wir, wohin gehen wir?"
: Es gibt ein Wort von Nietzsche: "Was wir tun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt." Wie ist das bei Ihnen?
: Mein Ziel war einst, so erfolgreich, das heißt folgenreich zu sein wie beispielsweise der universale Leonardo da Vinci. Er war, bilde ich mir ein, ein ähnlicher Typ wie ich, nicht nur auf Kunst kapriziert, sondern auf alles, was sich seinem Geist als Problem stellte. Ein anderer, den ich als Geistesverwandten (und als Konkurrenten) sehe, ist Georg Christoph Lichtenberg, mir verwandt auch physisch: Er hatte einen äußerlichen Buckel, ich empfinde einen innerlichen. Mit seinen "Pfennigweisheiten" hat er vor nichts Halt gemacht; alles und jedes war ihm Anlass zu scharfsinnigem Denken; keine Fragestellung war ihm zu klein und keine war zu groß. So ähnlich im Ansatz, habe ich im Laufe der Zeit, wie ich behaupte, einiges entdeckt, das andere nicht gesehen (oder übersehen) haben. Aber es ist mir nicht gelungen, daraus ein System zu machen - worüber ich in gewisser Hinsicht sogar ganz froh bin. Ich meine nämlich, es gibt kein Gesamtsystem, es gibt nicht diesen übergeordneten Theorienhimmel, in den sich alle Einzelphänomene einpassen lassen. Es ist mir aber auch nicht geglückt, die Findungen und Erfindungen, die ich in die Welt gesetzt habe, an meine Person zu koppeln. Und meine Selbstgewissheit, mein Selbstbewusstsein ist nicht groß genug, dass ich ertragen kann, meine Ideen sich ausbreiten zu sehen, ohne dass sie etwas mit mir zu tun zu haben scheinen. Ich bin eigentlich nie für etwas, das ich gemacht habe, von der Öffentlichkeit angemessen honoriert worden, weder ideell noch materiell. Ich sage das ohne Selbstmitleid - immerhin habe ich meine Professur, bin Beamter auf Lebenszeit: Geld wird also immer kommen. Es gibt viele Künstler, mit deren Namen sich sofort bestimmte Gedanken, Stile und Handschriften verbinden lassen - der Quadrat-Albers, der Nagel-Uecker, der Kopffüßler-Antes, der Fett- und Filz-Beuys usw. usf. - für meine Person gilt das nicht, zum Glück oder zum Unglück. Jeder meiner Gedanken lässt sich anderen Künstlern zuschreiben, denn so gut wie alles, was ich gemacht habe, ist von anderen vereinnahmt worden. Preußen Münster war 1951 im Endspiel zur Deutschen Fußballmeisterschaft und hat gegen den 1. FC Kaiserslautern verloren. Jetzt dümpelt dieser Verein drittklassig herum, ohne dass ein Aufstieg gelingen will. So ähnlich geht's auch mir: in der zweiten oder dritten Liga führend, aber zur ersten nicht zugelassen. Bei großen internationalen Veranstaltungen bin ich selten dabei und bin gezwungen, in der Provinz mich zu verausgaben.
Mir fällt in diesem Zusammenhang ein anderes Wort von Nietzsche ein, aus Menschliches, Allzumenschliches "Nachruhm. - Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen hat nur Sinn, wenn man die Annahme macht, daß die Menschheit wesentlich unverändert bleibe und daß alles Große nicht für eine, sondern für alle Zeiten als groß empfunden werden müsse. Dies ist aber ein Irrtum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urteilen über das, was schön und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist Phantasterei, von sich zu glauben, daß man eine Meile Wegs voraus sei und daß die gesamte Menschheit unsere Straße ziehe. Zudem: ein Gelehrter, der verkannt wird, darf bestimmt darauf rechnen, daß seine Entdeckung von anderen auch gemacht wird und daß ihm bestenfalls einmal später von einem Historiker zuerkannt wird, er habe dies oder jenes auch schon gewußt, sei aber nicht imstande gewesen, seiner Sache Glauben zu verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. - Kurz, man soll der hochmütigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es gibt übrigens Ausnahmefälle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwächen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer großen Eigenschaften verhindern."
Viele Kritiker und Kunsthistoriker meinen, man könne heute noch gar nicht entscheiden, was wichtig sei in der Kunst, die Geschichte werde es zeigen. Es gibt aber keine ausgleichende Gerechtigkeit durch die Geschichte; Geschichtsschreibung spiegelt lediglich Machtkämpfe. Korrekturen und Re-Visionen an einem einmal etablierten Geschichtsbild sind kaum möglich. Man muss zudem bedenken, wie heutzutage Meinungen gemacht werden. Es wird so viel publiziert, die publizistischen Waren werden so schnell umgeschlagen - und zwar weltweit -, dass sich der Ruf eines Künstlers nicht mehr langsam ausbreitet wie noch zu Beginn oder bis zur Mitte unseres Jahrhunderts, sondern man muss sofort auf dem internationalen Kunstmarkt präsent sein: Jetzt oder nie! Ich habe Visuelle Poesie gemacht - da kennen mich ein paar Leute; ich arbeite im Terrain der Skulptur - auch da kennen mich einige; usw. usf. Aber diese Leute kennen sich nicht untereinander, und so ist meine Präsenz nirgendwo so auffallend, dass ich zu einer großen Nummer aufsteigen konnte. So gesehen, habe ich durch allzu große 'Diversifikation' meiner Produktion vermeintlich mich 'verzettelt' und einen möglichen Ruhm bewusst-unbewusst hintertrieben, und diesen 'Fehler' zu korrigieren, bleibt kaum noch Zeit.
: Was muss man denn tun, um ein erfolgreicher Künstler zu werden?
: Wenn ich vor meinen Studenten stehe, müsste ich sie eigentlich warnen, dass sie sich keinen Illusionen und falschen Hoffnungen hingeben mögen. Von hundert jungen Künstlern schaffen es vielleicht zwei, drei; auf großer Ebene ganz, ganz wenige. Ich kenne keine Patentrezepte, aber es kommen doch benennbare Faktoren zusammen, die Erfolg ausmachen. Ich kenne viele, die durchaus Talent hatten, aus denen aber dennoch 'nichts' geworden ist. Denen fehlten offenbar bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel Hartnäckigkeit und die Skrupellosigkeit, sich dem Markt anzudienen. Man muss einen langen Atem mitbringen, Durchsetzungsvermögen haben; man muss all die gesellschaftlichen Umgangsformen beherrschen, die es einem gestatten, sich in den Kunstkreisen sicher zu bewegen. Und man muss über Geschäftstüchtigkeit verfügen und über ein Selbstwertgefühl, das sich in Marktpreis ummünzt. Die Primärtugenden - Talent, Neugier, Risikobereitschaft - machen, wie man allenthalben sehen kann, nur einen kleinen Teil am Erfolg aus; die gesellschaftlich-marktstrategischen Sekundär- und Tertiärtugenden auszubilden, ist mindestens ebenso wichtig.
: Muss ein guter Künstler Starallüren haben?
: Nicht unbedingt. Sie können als Künstler sogar sehr zurückhaltend sein. Aber in dieser Situation müssen Sie jemanden finden, der an Ihrer statt diesen Drang an die Öffentlichkeit verspürt und für Sie in den Ring steigt. Das kann ein guter Galerist sein oder ein einflussreicher Vermittler.
: Kann in einem dermaßen kommerzialisierten Kunstbetrieb überhaupt noch gute Kunst entstehen?
: Wenn ich durch die Akademien oder über die Kunstmärkte gehe, sehe ich sowohl überraschende, aufregende Sachen als auch viel dummes Zeug. Häufig stoße ich in den Akademien und Hochschulen sogar auf interessantere Arbeiten als auf dem Kunstmarkt, weil nämlich die Leute noch unverbrauchter, hoffnungsfroher und experimentierfreudiger sind als jene, die bereits vom Ehrgeiz zerfressen und von den Konkurrenzkämpfen ermüdet sind. Über Jahre und Jahrzehnte hinweg sind solche Kämpfe nämlich lähmend und zermürbend. Bei der Ausstellung der Ehemaligen zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen unserer Akademie, veranstaltet von der Kunsthalle Recklinghausen im letzten Winter, war zu bemerken, wie erschöpft etliche unserer Meisterschüler nach wenigen Jahren auf der freien Wildbahn bereits wirken. Einige waren noch immer mit den gleichen Dingen beschäftigt wie zu ihrer Studienzeit und haben sich nicht weiterentwickelt. Die Schau war in vielen Teilen enttäuschend und weniger ergiebig als die Ausstellung der Studierenden einige Monate vorher in München.
: Obwohl mehr Frauen als Männer Kunst studieren, setzen sich später doch eher die Männer durch. Worauf führen Sie das zurück?
: Es kommen viele Faktoren zusammen. Das beginnt damit, dass der Kunstmarkt weitgehend von Männern beherrscht wird. Auch die meisten Sammler sind Männer; Frauen haben in der Regel gar nicht das Kapital, um Kunst in großem Stil zu sammeln. Und welche Künstler sind erfolgreich? Nehmen Sie die angeblich einhundert "Besten" der Finanzzeitschrift Capital: Extrem überwiegend ist der Anteil der Männer, und fast alle kommen aus den fünf, sechs reichsten Industrienationen. Man könnte meinen, US-Amerikaner, Deutsche, Engländer, Franzosen und Italiener seien nicht nur wirtschaftlich potent, sondern auch künstlerisch überragend begabt. Es wird suggeriert, als lebten in Budapest, Athen oder Buenos Aires keine Künstler von Rang - von der Dritten und dem Rest der Welt ganz zu schweigen. Von Chancengleichheit keine Spur! Der Kunsthandel, der die Künstler 'macht', operiert von einigen wenigen Wirtschaftszentren aus; seine Strukturen sind durchaus vergleichbar denen von Kartellen und von mafiöser Natur - nur sehr viel einfacher durchschaubar. In Deutschland sind es nur ein, zwei Dutzend Marktführer und Meinungsmacher, die die wesentlichen Fäden in der Hand haben. Unter den Vermittlern gibt es zwar zunehmend auch Frauen - beispielsweise schreiben in der Zeitschrift Kunstforum International recht viele Autorinnen -, aber auch die setzen gern auf männliche Künstler: Eine Journalistin oder Kunsthistorikerin, die Karriere machen will, wird eher über einen als bedeutend geltenden Mann etwas Bekanntes, Langweiliges bringen als über eine unbekannte Frau etwas Neues und Interessantes. Referieren Sie über einen Top-Ten-Artisten, werden Sie in der Fachpresse selbstverständlich häufiger zitiert, als wenn Sie sich über weniger Publizitätsträchtige auslassen, mag es auch über 'Stars' schon übergenug Bücher geben. Nicht anders verhält es sich bei Ausstellungen und Sammlungen: Sie ähneln einander wie Filialen von Aldi oder McDonald's, je nach Anspruch: Überall dasselbe Angebot, dieselben Markenartikel, dieselben Namen. So wird die Kunstszene künstlich verzerrt, zugunsten der Superstars, zuungunsten und auf Kosten der weniger Namhaften.
: Sie selbst sind als Autodidakt zur Kunst gekommen. Sehen Sie sich als Lehrer im Sinne des klassischen Meister-Schüler-Verhältnisses?
: Wenn ich ein Bild aus dem Sport auf die Kunst übertragen darf, so möchte ich mich sehen als eine Art Spielertrainer. Dieser muss nicht nur ein ganz guter Spieler (gewesen) sein, er muss auch das Talent und die Lust mitbringen, seine Erfahrungen und Erkenntnisse weiterzugeben. Ich habe einfach mehr erlebt, mehr gesehen und gelesen als meine Studenten; wie ein alter Baum habe ich eben mehr Jahresringe angesetzt als das noch 'junge Gemüse', und aus der Differenz an Jahren schöpfe ich. Ich bin trainiert in Denkstrategien, in Zugriffsweisen und Verfahrenstechniken und kann von einer Idee schnell zu ihrer Umsetzung gelangen. All das kann ich mit den Studenten diskutieren und erproben. Aber prinzipielle Unterschiede zwischen ihnen und mir sehe ich nicht. Ich hoffe nur, dass ich künstlerisch noch immer besser in Form bin als die Leute in meiner Klasse. Picassos Vater war selbst Künstler; als er das Talent seines Sohnes erkannte, hat er den Pinsel aus der Hand gelegt. Das soll mir nicht passieren.
: Eine ganz andere Frage: Was lesen Sie gerne?
: Ich nehme an, mich beherrscht so etwas wie ein Lesezwang. Ich fahre ja häufig mit der Bahn, und wenn ich nachts beim Aussteigen an einem Abteil vorbeikomme, in dem ein Haufen alter Zeitschriften liegt, bringe ich es nicht fertig, ihn ungelesen liegen zu lassen. Um Zeit zu sparen, lese ich andererseits in der Akademie gern und nur die Bild-Zeitung der Hausmeister. Jeder Artikel in jeder Zeitung und Zeitschrift ist ja auf gewisse Weise interessant, handle es sich nun um Sport, Politik, Wirtschaft, 'bunte Welt' oder meinetwegen Kultur, es kommt nur auf die Fragestellung, den Blickwinkel an. Wenn ein Archäologe in Ägypten eine Steintafel findet, wird das ja auch mit grimmigem Ernst entziffert und wissenschaftlich erforscht, gleichviel ob ein Koch ein Rezept oder ein Staatsschreiber die täglichen Ausgaben des königlichen Haushalts festgehalten hat. Das Dumme ist nur, dass ich in meiner Reisetasche noch Zeitungen vom letzten Jahr herumschleppe, und zu Hause bin ich von Papierbergen regelrecht eingemauert. Als Student ist mir sogar einmal mein Zimmer gekündigt worden, weil es mit Zeitungen und Zeitschriften so vollgestopft war, dass die Vermieterin nicht mehr fegen konnte. Zuhauf stapeln sich bei mir auch Broschüren von Greenpeace, Terre des Hommes, SOS Kinderdorf, vom Roten Kreuz und von der Kriegsgräberfürsorge. Das ist die 'Strafe' fürs Geldspenden, und ich erwäge, diese Organisationen nicht mehr zu unterstützen, um mich der Papierflut zu erwehren und die Lektüren zu ersparen.
Ähnlich geht's mir mit Büchern; auch da bin ich ein Allesfresser, lese kreuz und quer und querbeet. Besonders gern habe ich in letzter Zeit Cornell Woolrich gelesen und Julian Barnes - er ist der einzige lebende Autor, von dem ich fünf oder sechs Bücher kenne; als Erstes habe ich Flauberts Papagei mir einverleibt, dann Eine Geschichte der Welt in 10½ Kapiteln. Wenn ich von Hannover nach Münster und retour fahre, steige ich immer in Hamm um, und in einer Ramschkiste der Bahnhofsbuchhandlung habe ich diese Titel aufgestöbert, für drei Mark fünfundneunzig, und gleich mehrfach aus dem Verkehr gezogen, zum Verschenken.
: Sie haben in diesem Gespräch Vergleiche aus der Fußballwelt herangezogen. Interessieren Sie sich für Fußball?
: Oh ja. Ich bin in den fünfziger Jahren groß geworden, wie gesagt. Was konnte man als Schüler in seiner Freizeit da anfangen? Schularbeiten machen oder vielleicht zum Tanztee einer evangelischen Kirchengemeinde gehen? Ich habe Autoprospekte gesammelt und Autogramme von Berühmtheiten: Schauspielern, Sängern, Sportlern, Politikern, beispielsweise von Marika Rökk, René Carol, Herbert von Karajan, 0. E. Hasse, "Boss" Rahn, Bill Haley. Sonntags hab ich Radio gehört, Schlagerparaden von und mit Chris Howland, und nachmittags ging's ins Kino oder eben ins Fußballstadion zu Werder Bremen. Das tue ich heute nicht mehr, aber ich sehe mir Fußballspiele noch heute gern im Fernsehen an und freue mich - aus einer Art antikapitalistischem Reflex heraus -, wenn Bayern München mal vorgeführt wird. Mit diesem Verein nämlich spielt das Großkapital sich ungeniert und beinah modellhaft auf. Es zeigt sich, was man mit Geld alles machen kann - und das ist doch wirklich keine Kunst! |