Paul Auster
Am Erker Nr. 25, Münster, Herbst 1992.
"Jedes meiner Bücher ist Teil derselben Landkarte"
: Es scheint,
als seien Ihre Romane alle eng miteinander verknüpft. Zahlreiche
Querverweise in Ihren Büchern unterstützen diesen Eindruck.
Könnte es sein, dass alle Ihre Bücher Teile eines einzigen
großen Romans in Ihrem Kopf sind?
: Das könnte man so sehen.
Aber weniger im Sinne einer sich fortsetzenden Geschichte, sondern
vielmehr im Sinne von verschiedenen Facetten eines größeren
Gebildes, was immer das sein mag. Wie ein Mosaik, in dem die einzelnen
Teile nach und nach eingefügt werden. Es ist so, als ob man
ein bestimmtes Terrain ausmessen würde. Wenn man die Einbildungskraft
mit einem Kontinent vergleicht, so entsteht mit jedem Buch ein
neues Land. Aber nicht systematisch, sondern mal eins hier, ein
anderes dort. Aber sie alle sind Teil derselben Landkarte.
Wenn ich lange genug lebe, werde ich den gesamten Kontinent ausfüllen.
Wahrscheinlich jedoch nicht.
: Tauchen bestimmte Charaktere
aus früheren Romanen automatisch wieder auf, wenn Sie an
einem neuen Buch arbeiten?
: Ich glaube, sie sind alle zur
gleichen Zeit da. Selbst wenn ich ein Buch beendet habe, geht
die Geschichte doch irgendwie in meinem Kopf weiter und mit ihr
das Leben der einzelnen Charaktere. In meinem Kopf gibt es weit
verzweigte Stammbäume und Beziehungen zwischen den einzelnen
Figuren. Ich habe darauf nicht in allen Büchern zurückkommen
können. In Die Musik des Zufalls gab es zum Beispiel
eine längere Passage über Nashes Vergangenheit. Seine
Mutter trug darin den Familiennamen Quinn, und sein Onkel war kein
anderer als Daniel Quinn, der Protagonist aus dem ersten Teil
der New-York-Trilogie. Und dann stellte ich mir vor, er
sei in der gleichen Stadt aufgewachsen wie Anna Blume aus Im
Land der letzten Dinge und Zimmer, der in Mond über
Manhattan auf Briefe von Anna Blume wartet. In meiner Vorstellung
haben alle drei eine gemeinsame Kindheit verbracht.
: Ihre jetzt bei uns vorliegenden
Romane wurden weitgehend in den Siebzigern geschrieben. Heißt
das, dass Sie parallel an verschiedenen Buchprojekten gearbeitet
haben?
: Zum Teil. Meine ersten fünf
Romane habe ich mehr oder weniger gleichzeitig geschrieben. Im
Land der letzten Dinge habe ich um 1970 begonnen. Es ist zwar
nur ein schmales Buch, aber ich habe fünfzehn Jahre daran
gearbeitet. Auch frühe Fassungen von Mond über Manhattan
fallen in diese Zeit. Ich hatte also große Mengen unvollendeten
Materials. Dann habe ich mich hingesetzt und die New-York-Trilogie
geschrieben. Für den ersten Teil, Stadt aus Glas,
habe ich verschiedene Passagen aus Mond über Manhattan
übernommen. Ich dachte damals, mit dem Buch niemals zurande
zu kommen, und habe die Dinge, die mir gefielen, daraus gestohlen.
Mit Schlagschatten, dem zweiten Teil der Trilogie, war
es ähnlich. Er geht auf ein Theaterstück zurück,
das den Titel Blackouts trug. Ich war mit dem Stück
nie zufrieden und hatte das Manuskript irgendwo in der Schublade
verstaut. Doch dann wurde daraus der zweite Teil der New-York-Trilogie.
: Ihre Bücher sind gespickt
mit Anekdoten. Haben Sie die alle erfunden?
: Aber nein. Nichts davon ist
erfunden. Das sind alles wahre Geschichten. Zum Beispiel die Sache
mit Walt Whitmans Gehirn. Nach seinem Tod sollte es seziert werden
und wurde der Amerikanischen Anthropometrischen Gesellschaft zur
Untersuchung zugeschickt. Ein Assistent ließ es unglücklicherweise
fallen, so dass es am Boden zerplatzte und in den Abfall wanderte.
Natürlich ist das bizarr, aber gerade darauf kommt es an.
Oder die Geschichte von dem Jungen, dessen Vater beim Skilaufen
in den französischen Alpen von einer Lawine verschüttet
wurde. Fünfundzwanzig Jahre später gelangt der Sohn in die Nähe
der Unglücksstelle und stößt auf die Leiche seines
Vaters im Eis, unversehrt und jünger, als er selbst inzwischen
ist. Auch das ist tatsächlich passiert.
: Haben Sie zu Hause einen
Zettelkasten, in dem Sie all diese skurrilen Sachen sammeln?
: Nein, ich schnappe diese Geschichten
irgendwo auf und habe sie dann oft jahrelang im Kopf, bis der
richtige Moment kommt, an dem ich sie in einem Buch gebrauchen
kann. Meine Lieblingsgeschichte ist die über den russischen
Philosophen Bachtin. Während der deutschen Besetzung Russlands
im Zweiten Weltkrieg rauchte er das einzige Manuskript einer Studie
der deutschen Literatur, an der er jahrelang geschrieben hatte.
Das klingt absurd, aber so ist es wirklich gewesen.
: Ihr Faible für skurrile
Geschichten verweist auf einen zentralen Aspekt Ihrer Bücher.
Dazu zwei Dinge aus Ihren Essays. In einem Aufsatz über Sir
Walter Raleigh schreiben Sie: "Man kann einem Menschen alles
nehmen, aber dieser Mensch wird weiter existieren." An anderer
Stelle sprechen Sie im Zusammenhang mit den Bildern des französischen
Malers Jean-Paul Riopelle vom "Bildnis eines Menschen an
der Grenze seiner selbst". Beide Zitate lassen sich auch
auf Ihre eigenen Romane beziehen. Könnte man sagen, dass
eines Ihrer Hauptanliegen darin besteht, Ihre Romanhelden an die
Grenzen ihrer Persönlichkeit zu führen?
: Ich denke schon. Auch wenn
ich mir dessen nicht immer bewusst bin, so handeln meine Romane
doch immer wieder von Leuten, die auf die eine oder andere Weise
etwas verloren haben, die aus der Gesellschaft herausfallen. Sie
besitzen nicht die sozialen Bindungen wie die meisten von uns,
hängen irgendwie in der Luft, aber das macht sie offener
für unvorhersehbare Ereignisse.
: Das Konzept der beziehungslosen
Helden erinnert an die amerikanische Unterhaltungsliteratur, Elmore
Leonard zum Beispiel, oder an die Miami-Romane von Carl Hiaasen.
Auch da gibt es immer jemanden, der auf einem Hausboot lebt, früher
mal Polizist oder sonst was war, aber ansonsten keine Vergangenheit
hat.
: Stimmt, der typisch amerikanische
Romanheld. Nashe in Die Musik des Zufalls hat allerdings
eine Vergangenheit. Es gibt Gründe, warum er sich in dieser
Situation befindet. Zweifellos gibt es Kontaktstellen zur traditionellen
Erzählliteratur, aber mein Buch bewegt sich auf einer grundsätzlich
anderen Ebene. In Die Musik des Zufalls geht es um Nashes
Innenleben, nicht um Action und Abenteuer. Man könnte es
mit einem Trichter vergleichen: Es beginnt mit einer breiten Fläche,
und dann läuft es nach unten hin immer enger auf einen bestimmten
Punkt zu.
: In der Regel werden Ihre
Romanhelden in ein völliges Chaos gestürzt, das urplötzlich
über sie hereinbricht. Dennoch resignieren sie nicht, sondern
sie stellen sich dieser Herausforderung, kämpfen dagegen
an. Und schließlich könnte man sogar sagen, dass sie
dadurch zu einem besseren Verständnis ihrer selbst gelangen.
Nashe beispielsweise betrachtet den Bau jener gigantischen Mauer
als seine persönliche Aufgabe, was immer dabei herauskommen
mag.
: Richtig. Es ist eine absurde
Aufgabe, ohne jede Bedeutung. Und er müsste es nicht tun.
Zweifellos gäbe es für ihn ein Dutzend oder mehr Wege,
um aus der Sache herauszukommen. Aber er entscheidet sich anders.
Und er erschafft sich eine eigene Bedeutung, indem er diese Mauer
baut.
: Das Interessante an Ihren
Büchern ist, dass Ihre Protagonisten auf das Chaos in ihrem
Leben mit einer Art persönlicher Ökonomie reagieren,
indem sie beispielsweise einen minutiösen Tagesablauf entwerfen
oder ihre Ausgaben auf Monate hinaus planen. Wollen Sie damit
zeigen, dass sich das Chaos doch irgendwie in den Griff kriegen
lässt?
: Ich bin mir da nicht ganz sicher.
Ein festes Prinzip steht sicherlich nicht dahinter. Manchmal scheinen
meine Figuren ein willkürliches System aufzustellen, um dem
Chaos zu widerstehen. Andere wiederum lassen sich mit offenen
Armen ins Chaos hineintreiben, um zu sehen, was passiert. Fogg
beispielsweise, aus Mond über Manhattan, verhält
sich seinen Problemen gegenüber eher passiv. Quinn ebenfalls.
Dann gibt es Figuren, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Denken Sie an den Ich-Erzähler in Hinter verschlossenen
Türen oder an Anna Blume, die beide laufend wichtige
Entscheidungen für ihr Leben treffen. Nashe befindet sich
irgendwo dazwischen. Er gewinnt zunehmend ein Bewusstsein für
das, was in ihm steckt. Für mich gibt es eine bedeutende
Stelle im Buch, die bislang noch niemandem aufgefallen ist. Sie
befindet sich ziemlich am Ende des Buches, wo es heißt:
"Er hatte sich nie als einen Menschen betrachtet, der für
große Dinge bestimmt war. Sein Leben lang hatte er angenommen,
er sei genau wie jeder andere. Aber jetzt stieg ganz allmählich
der Verdacht in ihm auf, dass er sich geirrt haben könnte."
Das ist der Moment, wo er seine persönliche Bilanz zieht
und zu ahnen beginnt, dass er kein Allerweltsmensch ist. In ihm
steckt eine Kraft, von der er zuvor nichts gewusst hatte.
: Aber dann wäre das Ende
des Buches frustrierend. Schließlich begeht Nashe zum Schluss
Selbstmord, oder ist es in Ihren Augen eher ein Unfall?
: Sie können den Schluss
auf vielerlei Arten lesen. Ich habe ihn bewusst offen gehalten.
Für mich endet das Buch vor dem eigentlichen Ende, denn wir
wissen nicht, was genau mit Nashe passiert. In meinem Kopf überlebt
er diesen Unfall und kriecht aus dem Wrack. Aber das wollte ich
nicht schreiben. Denn der entscheidende Punkt liegt für mich
eben darin, dass er zum Schluss eine Bewusstseinshaltung erlangt
hat, in der er alles, was das Schicksal für ihn bereit hält,
mit offenen Armen empfangen kann, auch wenn es der Tod ist. Aber
in meinem Kopf überlebt er. Ich denke sogar daran, ihn in
einem späteren Buch zusammen mit seiner Tochter zurückkehren
zu lassen. Natürlich wird sie dann längst erwachsen
sein.
: Die Musik des Zufalls
könnte der Titel fast jedes Ihrer Bücher sein. Zufälle
spielen in Ihren Romanen ja eine entscheidende Rolle. Die Kritik
hat Sie dafür oft gerügt. Würden Sie sagen, dass
unsere Existenz tatsächlich weitgehend von Zufällen
bestimmt ist?
: Absolut. Ungewöhnliche
Dinge geschehen laufend. Ich würde sogar behaupten, dass
ich ungeachtet der Kritiker, die meine Bücher nicht mögen,
ein realistischer Autor bin. Wenn man nur genau hinschaut und
sieht, was in der Welt so alles passiert, wird man zugeben müssen,
dass die Wirklichkeitsauffassung, wie sie etwa der realistische
Roman des neunzehnten Jahrhunderts vertreten hat, einfach nicht haltbar
ist. Es ist eine Konstruktion. Die Diskussion, was realistisch
ist und was nicht, hat mich so geärgert, dass ich kürzlich
ein etwa dreißig Seiten langes Manuskript abgeschlossen
habe, in dem es ausschließlich um Zufälle geht. Der
Test besteht aus zehn kurzen Episoden, die sich alle tatsächlich
ereignet haben. Entweder habe ich selbst oder Freunde von mir
haben diese Dinge erlebt. Und jede Geschichte ist außergewöhnlicher
als alles, was ich bisher geschrieben habe. Lassen Sie mich ein
Beispiel daraus erzählen.
Es geht um eine Frau, die ich vor einigen Jahren bei einem Freund
kennen gelernt habe. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs
in Prag geboren. Ihr Vater wurde von den Deutschen verhaftet,
in die Armee gesteckt und an die russische Front geschickt. Danach
hat die Familie nie wieder von ihm gehört. Die junge Frau
wächst also in Prag auf und wird Professorin für Kunstgeschichte.
Eines Tages kommt ein Austauschstudent aus Ostdeutschland in ihre
Klasse. Die beiden verlieben sich und heiraten. Kurz nach der
Hochzeit erhält der Mann ein Telegramm mit der Nachricht,
dass sein Vater gestorben sei. Also fahren die beiden zur Beerdigung
nach Ostdeutschland, wo der Frau ihre neue Verwandtschaft vorgestellt
wird. Und dabei stellt sich dann heraus, dass ihr Schwiegervater
aus Prag stammt, im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen in die
Armee gesteckt und an die russische Front geschickt wurde. Nach
dem Krieg war er nicht in die Tschechoslowakei zurückgekehrt,
sondern hatte eine deutsche Frau geheiratet und eine neue Familie
gegründet. Die Frau hatte folglich ihren eigenen Bruder geheiratet.
Kaum zu glauben, aber genau so war es.
: Ihre Bücher, insbesondere
die noch nicht ins Deutsche übertragenen Essays, zeigen,
dass Sie mit der europäischen Literatur eng vertraut sind.
Ungaretti, Jabès und Hugo Ball sind nicht unbedingt Namen,
die zum kulturellen Allgemeingut eines amerikanischen Autors gehören.
Würden Sie sagen, dass sich Ihr literarischer Horizont von
dem anderer amerikanischer Autoren unterscheidet?
: Also, zunächst einmal
muss ich sagen, dass ich bei weitem nicht so belesen bin, wie
Sie vielleicht denken mögen. Da gibt es vieles, das ich nicht
kenne oder noch nicht versucht habe. Balzac zum Beispiel. Ich
habe noch nie ein Buch von ihm gelesen. Die Liste ließe
sich beliebig verlängern. Außerdem denke ich, dass
die amerikanischen Autoren heute sehr viel über die europäische,
die lateinamerikanische und die asiatische Literatur wissen. Alle
Schriftsteller auf der Welt lesen heutzutage einander. Die Zahl
der Übersetzungen steigt ständig an, und für die
Literatur gibt es keine kulturellen Barrieren mehr. Eigentlich
ist es immer schon so gewesen. Denken Sie nur an die Geschichte
der europäischen Lyrik, zum Beispiel der englischen. Dort
stehen am Anfang Sonette, die italienischen Vorbildern nachempfunden
waren. Thomas Wyatt, ein Autor, der etwa ein halbes Jahrhundert
vor Shakespeare lebte, schrieb damals wunderbare Gedichte. Einige
davon waren allerdings direkte Übertragungen von Petrarca-Gedichten.
Auch Spencer hat vieles von französischen Autoren übernommen.
: Gibt es Autoren, die für
Sie so etwas wie Vorbilder waren?
: Am ehesten kommen mir da Hawthorne
und Melville in den Sinn. Diesen beiden fühle ich mich psychologisch
am meisten verbunden. Dostojewski bewundere ich sehr, aber nicht
alles von ihm. Einige seiner Bücher gehören zu den größten,
die ich je gelesen habe. Aber seine Ideen liegen mir eher fern.
Mein Lieblingsbuch allerdings ist Don Quixote. Obwohl ich von
Cervantes wenig weiß, nie eine Biografie oder Ähnliches
über ihn gelesen habe.
: Ihre Romane, vor allem die
New-York-Trilogie, sind von der Kritik einhellig dafür
gelobt worden, dass sie spannende Unterhaltung mit erzähltechnischer
Raffinesse und Versiertheit verbinden. Steckt ein erzähltheoretisches
Konzept dahinter?
: Nein, überhaupt nicht.
Bei allen meinen Büchern war die Form ein Resultat dessen,
was ich zu sagen hatte. Es gab also kein stilistisches Modell
oder so etwas. Der Inhalt bestimmt die Form, nicht umgekehrt.
Anders als beim Sonett, wo strenge formale Regeln gelten. Einen
Roman zu schreiben, ist in gewisser Weise schwieriger, denn ich
muss selbst jeweils eine neue Form finden.
: Das heißt, Sie schreiben
Ihre Romane ohne festen Entwurf? Sie entstehen sozusagen beim
Schreiben?
: So ausschließlich würde
ich das nicht sehen. Es ist eine Mischung aus beidem. Bevor ich
mich hinsetze und mit dem Schreiben beginne, trage ich die Geschichte
schon eine lange Zeit mit mir herum. Ich weiß vieles über
die einzelnen Charaktere, das Handlungsgerüst und wohin ich will.
Beim Schreiben ändert sich dann so manches. Einzelne
Ideen werden verworfen, und es kommen viele neue Dinge hinzu.
Insofern sind beide Momente enthalten.
: Manche Kritiker halten Ihnen
vor, dass Sie zu stark mit Klischees und Stereotypen arbeiten.
In Schlagschatten beispielsweise, dem zweiten Teil der
New-York-Trilogie, haben Sie den Figuren die Namen von
Farben gegeben. Wollten Sie damit zeigen, dass die Charaktere
auf ihre reine Erzählfunktion reduziert und im Prinzip austauschbar
sind?
: Aber nein, ganz im Gegenteil.
Lassen Sie mich das erklären. Zunächst einmal gibt es
solche Namen tatsächlich. Vor Jahren las ich in der Zeitung
eine Statistik über die American Football League.
Die erfolgreichsten Stürmer hießen damals Black, White,
Green, Blue und Grey. Ich denke, daher stammte die Idee. Am Anfang
hatte ich nur diese Namen. Dann war da der Gedanke, so etwas wie
eine Fabel zu schreiben, ein Märchen. Indem ich die Charaktere
nach Farben benannte, konnte ich der Geschichte die nötige
Distanz geben. Zugleich interessierte mich an dieser Idee die
Tatsache, dass Farben sich nicht mit Worten erklären lassen.
Sie können einem Blinden nicht erklären, was eine Farbe
ist. Es geht einfach nicht. Sie können die physikalischen
Eigenschaften beschreiben, können über Lichtwellen reden,
aber all das sagt ihm nichts. Eine Farbe muss man sehen und erleben,
um sie zu begreifen. Genauso wie man eine Person erleben muss,
um zu wissen, wie sie ist. Ganz egal, was einem die anderen erzählen.
Das alles bedeutet nichts, solange man den anderen nicht selbst
kennen gelernt hat. Dadurch, dass ich den Personen die Namen von
Farben gab, konnte ich sie völlig abstrakt, zugleich aber
auch sehr konkret erscheinen lassen. Und ich denke, das sind sie
auch.
: In dem Buch geht es ja in
erster Linie um das Problem der Identität.
: Unter anderem. Als ein Freund
das Buch damals gelesen hatte, kam er zu mir und sagte, ich hätte
ein Buch über die Metaphysik des Lesens geschrieben. Es beschreibt,
was passiert, wenn wir ein Buch lesen. Wir werden in etwas hineingezogen.
Ich glaube, da ist etwas dran. Schlagschatten handelt vom
Lesen eines Buches, in dem es um das Lesen eines Buches geht,
oder auch darum, eins zu schreiben.
: In Ihren Essays setzen Sie
sich durchweg mit Autoren auseinander, deren Denken eine große
Nähe zu Ihren eigenen Büchern aufweist.
: Ja, ich denke, das hat seinen
besonderen Grund. Ich habe bereits an meinen ersten Romanen geschrieben,
bevor ich auch nur eine Zeile zu Papier gebracht hatte. Unbewusst
sozusagen. Und deshalb haben mich eine Reihe von Autoren angezogen,
die so ähnlich dachten wie ich. Dadurch war mir die Möglichkeit
gegeben, in meinen Essays einige Gedanken über das auszudrücken,
was ich irgendwann später einmal selbst schreiben wollte.
: Einige Ihrer Romane lesen
sich wie literarische road movies, insbesondere Die
Musik des Zufalls. Hat Ihnen jemand schon einmal den Vorschlag
gemacht, eines Ihrer Bücher in ein Filmdrehbuch umzuschreiben?
: Also, Die Musik des Zufalls
wird gerade verfilmt. Ich selbst habe damit nichts zu tun, das
Drehbuch schrieb jemand anderes. Ich betrachte die Sache mit gemischten
Gefühlen. Wer weiß, was am Ende dabei herauskommt.
Für das Drehbuch musste die Romanvorlage erheblich gekürzt
werden. Also hat man den ganzen ersten Teil des Buches gestrichen.
Der Film beginnt damit, dass Nashe und Pozzi sich auf der Straße
begegnen. Das ganze erste Kapitel fehlt, wie Nashe den Boden unter
den Füßen verliert und ziellos herumirrt. Später
wird zwar kurz darauf eingegangen, aber man erfährt nichts
Genaues. Der Film wäre sonst wohl vier Stunden lang geworden.
: Gibt es weitere Projekte?
: Ja, natürlich. Die
Musik des Zufalls ist ja kein neues Buch, ich habe es bereits
1989 beendet. Mein neuer Roman ist inzwischen fertig und erscheint
in diesen Tagen in Amerika. Der Titel lautet Leviathan.
Es ist das politischste Buch, das ich bislang geschrieben habe.
Neben diesem Roman habe ich noch ein Drehbuch geschrieben. Es
basiert auf einer Kurzgeschichte, Auggie Wren's Christmas
Story, die ich vor anderthalb Jahren für die New York
Times geschrieben habe. Sie haben mich gefragt, ob ich für
sie nicht eine Weihnachtsgeschichte schreiben könne, und
ich sagte zu, obwohl ich so etwas noch nie gemacht hatte. Jedenfalls
war diese Geschichte der Anfang des Films. Es ist meine erste
Komödie, nichts Ernstes, und die Sache hat mir großen
Spaß gemacht. Es kommt auch ein Schriftsteller darin vor,
der im Film an dem Roman Schlagschatten arbeitet. Einzelne
Passagen aus dem Buch werden als Schwarzweißfilm zwischendurch
eingeblendet, als Film im Film sozusagen. Das Drehbuch basiert
also auf zwei verschiedenen Vorlagen, aber siebzig Prozent des
Materials wurden eigens für den Film geschrieben.
: Und was ist mit den zehn
wahren Geschichten, von denen Sie gesprochen haben? Werden wir
demnächst auch Kurzgeschichten von Paul Auster zu lesen bekommen?
: Mal sehen. Ich habe damit einfach
noch zu wenig Erfahrung. Dabei würde ich gerne Kurzgeschichten
schreiben. Das Genre interessiert mich. Es ist nur so, dass ich
mit Kurzgeschichten bisher nicht zurechtgekommen bin.
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