Eine Gabel in der Hand, ein Buch in Sichtweite, sitze ich vor einer geöffneten Dose Fischfilet in Tomatensoße. Von jedem Bissen, den ich zum Mund führe, tropft ein wenig rote Flüssigkeit in meinen Bart. Das ist unangenehm, aber zu ertragen. Ich sollte überhaupt nicht beim Essen lesen, doch diese jahrzehntelange Angewohnheit sitzt hartnäckig. Das Buch ist bislang noch unbefleckt. Den schönen Schutzumschlag habe ich aus Vorsicht zur Seite gelegt.
Es handelt sich um die Neuübersetzung eines Klassikers, dessen Protagonist eindrucksvoll davon berichtet, wie mühsam es ist, als Feuilletonist seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Oft kann er sich keine vernünftige Mahlzeit leisten und leidet tagelang Hungerqualen. Doch kaum, dass er ein paar Münzen in der Tasche hat, wird er übermütig. Oder ihn quälen Gewissensbisse, weil er vom Missgeschick eines anderen profitiert hat. Einmal gönnt er sich von einem unerwarteten Geldsegen einen Restaurantbesuch und muss sich anschließend übergeben. Solche Passagen zu lesen, während man selbst leicht metallisch schmeckenden Dosenfisch verzehrt, ist eine Herausforderung, die ein erfahrener Zeilenknecht wie unsereiner aber mühelos zu meistern versteht. Zumal ich nicht zum Größenwahn neige wie der traurige Held des Romans, der sich aus einer Stimmung heraus entscheidet, "eine Abhandlung in drei Teilen über philosophische Erkenntnis" anzufertigen, obwohl er den geplanten Aufsatz über "die Verbrechen der Zukunft" noch nicht einmal in Angriff genommen zu haben scheint. Du armer Tropf, denkt man mitleidig und liest befriedigt weiter.
Dass es hier um Knut Hamsuns berühmten Roman Hunger geht, mit dem der bis dahin erfolglose Schriftsteller 1890 zu Ruhm gelangte, dürfte inzwischen klar geworden sein. Was durch die neue Übersetzung von Ulrich Sonnenberg gewonnen ist, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich die älteren deutschen Fassungen nicht kenne. Gelesen habe ich diese hier gern. Für die Ausgabe spricht außerdem, dass sie sich an der noch nicht vom Autor aus weltanschaulichen Gründen gekürzten Erstfassung orientiert. Das engagierte Nachwort von Felicitas Hoppe und die attraktive Gestaltung des Bandes sind weitere Gründe dafür, bei begrenztem Anschaffungsbudget Zeitgenössisches gezielt zu ignorieren und diesen modernen Klassiker zu erwerben. Fast möchte man schreiben, dass es sie noch gebe, die guten Dinge. Aber das klänge zu sehr nach einem Regal aus gewachstem Kirschholz und nicht nach dem Spanplattenarrangement, in dem ich meine Bücher unterbringe, wenn ich sie nicht einfach in den Ecken meiner Werkstatt staple. Zumal Misstrauen gegenüber den literarischen Empfehlungen eines Kolumnisten, der sich vorwiegend von Dosenfisch, Frühstücksfleisch und Toastbrot ernährt, mehr als angebracht ist. Und doch kann ich behaupten, dass mein Urteil immer authentisch ist. So fällt es mir aufgrund meiner bescheidenen Lebensumstände leicht, mich mit Hungerleidern und unverstandenen Literaten zu identifizieren.
Deshalb verstehe ich die wütenden Invektiven, denen moderne Kunsterzeugnisse immer wieder ausgesetzt sind, ebenso gut wie die beleidigten Reaktionen der Hersteller solcher Artefakte. Da zetern notorische Nichtleser über einen gut dotierten Lyrikpreis für ein paar scheinbar achtlos aneinandergereihte Wörter, von dem sie nur durch Zufall erfahren haben, um sich von ästhetisch Bewanderten des Banausentums zeihen zu lassen, während leer ausgegangene Lyrikerinnen nur im Geheimen grollen, denn das Geld hätten auch sie gebrauchen können. Das geht schon über hundert Jahre so, möchte ich da grob vereinfachend kommentieren. Auf die Zumutungen zeitgenössischer Kunst reagieren Nicht-Eingeweihte oft unverhohlen aggressiv. Und da das verständige Publikum eine ziemlich kleine Gruppe ist, steigt der Konkurrenzdruck unter den Produzenten mit deren materieller Not. Dabei geht es nicht um die eh zu vernachlässigenden Verkaufszahlen, sondern um Zuwendungen privater (eher selten) und öffentlicher (die Regel) Mäzene. Ohne die übrigens auch diese Zeitschrift nicht existieren könnte. Meist handelt es sich um Summen, über die in anderen Bereichen der Medienindustrie nur gelächelt wird. Wer einen kleinen Einblick in diese Welt möchte, lese unbedingt den gemeinsam mit dem großartigen Sven Regener verfassten zweiten Teil der Erinnerungen des vielseitigen Musikers und Videokünstlers Andreas Dorau, dessen erstes Album Blumen und Narzissen Anfang der 1980er Jahre auch in der Am-Erker-Redaktion viel gehört wurde. Dem sechzehnjährigen Dorau war damals zufällig ein Hit gelungen, der noch heute, mehr als vierzig Jahre später, einen langen Schatten wirft. Die Frau mit dem Arm, so heißt das Buch, ist charmant, amüsant und ergreifend. Und das ist mehr, als man von vielen Romanen behaupten kann.
Natürlich ist es nicht in einem Kleinverlag erschienen, sondern bei einem so genannten Imprint eines großen Verlags, der sich wiederum im Eigentum eines Medienkonzerns befindet. Gut verkaufen wird es sich auch ohne mein Zutun. Ich begebe mich also freiwillig und ohne Not in die Dienste der Kulturindustrie, ohne dass es mir etwas einbringt. Das verstehe, wer will.
Deshalb sei zum Abschluss ein Lyriker gewürdigt, dessen neues Werk ich all jenen ans Herz lege, die weder Reim noch Kalauer scheuen und Sonette mögen. Sein Name ist Philip Saß, und er hat 2022 den "Großen Dinggang" gewonnen, einen immerhin mit 1.000 Euro dotierten Preis für komische Lyrik. Zu dieser Kolumne passt das "Feinschmecker-Chanson", dessen zwei Verse hier vollständig zitiert sein sollen:
"Ich würd lieber grausam verelenden / als ein Leben zu führn ohne Rehlenden." |