Am Erker 66

Sven Regener: 'Magical Mystery' (2013)

Martin Krumbholz: 'Eine kleine Passion' (2013)

Fliegende Wörter 2014

Links:

Sven Regener
Galiani
Martin Krumbholz
Ch. Schroer
Daedalus

 
Fritz Müller-Zech 66
Die Kolumne
 

Lange Zeit war keine Besserung in Sicht. Seit Tagen versuchte ich mich an der Lektüre eines just erschienenen Romans, doch es wollte mir nicht gelingen, auch nur drei Seiten am Stück zu lesen. Oft legte ich das Buch für einen Moment aus der Hand, um frischen Atem zu schöpfen, doch wenn ich wieder hineinschaute, kam es mir vor, als sähe ich all die Wörter und Sätze zum ersten Mal.
So müsse Literatur eben sein, erklärte mein alter Clubkamerad Kroll, dem ich meine Sorgen anvertraut hatte. Nur Texte, die sich einer unmittelbaren Sinnentnahme verweigerten, seien die Anstrengung des Lesens wert. Wilde, hermetische Provokation, das sei es, was er sich von zeitgenössischer Prosa erwarte, keinen braven Realismus. Und mit dieser Meinung stehe er nicht allein. Doch das Buch, an dem ich immer wieder aufs Neue scheiterte, war mitnichten vom selben Kaliber wie der spätavantgardistische Erzählband, aus dessen Besprechung  Kroll gerade jene klappentexttauglichen Sätze zitiert hatte. Im Gegenteil, das Werk, dem ich meinen zittrig-nervösen Allgemeinzustand verdankte, bot wackere Wirklichkeitstreue. Nur ich vermochte offenbar nicht mehr, etwas Fiktionales, so sehr es sich auch unserer vermeintlichen Realität anschmiegte, zu ertragen. Also verbrachte ich die folgenden Tage hobelnd und feilend in meiner Werkstatt,  blätterte ein wenig in alten Ausgaben des Modellflieger-Magazins und beschränkte meine sonstige Lektüre auf die Verkehrsberichterstattung in der Stimberg Zeitung. Doch die Selbsttherapie zeigte kaum Wirkung. Selbst Formulierungen wie "leicht überhöhte Geschwindigkeit" oder "unter Alkoholeinfluss" lösten allergische Schübe aus, wie ich sie seit der jugendlichen Lektüre von Konrad Bayers Montageroman der kopf des vitus bering nicht mehr erlebt hatte. Zur Heilung wollten radikalere Wege beschritten werden. Gift muss man mit Gift bekämpfen, dachte ich mir und griff zu einem dickleibigen Band, der sich wie zufällig auf meiner Werkbank eingefunden hatte. Der Name der Hauptfigur fand sich bereits auf dem Umschlag und war von berückender Schlichtheit: Karl Schmidt. Schmidt war offenbar auch der Erzähler des Romans, denn der erste Satz begann mit dem Wörtchen "ich", um dann einen zweiten Namen einzuführen, der ebenfalls bezaubernd klang: Raimund Schulte. Schulte und Schmidt, das wusste ich in diesem Moment, waren zwei Typen, die mir keine Probleme bereiten würden. Zumal sie sich in einer kulturellen Szene bewegten, von der ich fast nichts mitbekommen hatte. In den neunziger Jahren, als Techno das große Ding war, war ich vor allem damit beschäftigt, meine Vinylplattensammlung alphabetisch zu ordnen. Und nun hatte ich 500 Seiten vor mir, die die Tour einiger "Techno-Freaks" durch die Clubs der Republik beschrieben. Das war die richtige Medizin. Allein die Spitznamen: Natürlich wurde Karl Schmidt Charlie gerufen und Raimund Schulte musste sich Schulti nennen lassen. Außerdem mit dabei: Schöpfi, Hosti, Ferdi. Und ein paar andere. Ich weiß, das klingt albern, aber die Wirkung war phänomenal. Vielleicht auch deshalb, weil ich neben Karl Schmidt der einzige Nüchterne war. Schmidt hatte in den achtziger Jahren zu viele Drogen genommen, war psychiatrisch behandelt worden und lebte jetzt in einer sozialpädagogisch betreuten WG. Und weil er abstinent bleiben musste, war er der ideale Fahrer für die Tour. Mich erinnerte er ein wenig an Xaver Zürn, der in Martin Walsers Seelenarbeit einen Doktor Gleitze durch die Gegend kutschiert und abends vom Chef immer einen Eisbecher spendiert bekommt, weil er ihm blöderweise vorgelogen hat, er trinke keinen Alkohol. Zurück zum epischen Therapeutikum. Verfasst hat das tragikomische Opus der großartige Sven Regener, dem wir schon eine Reihe lesenswerter zeithistorischer Romane verdanken. Magical Mystery überzeugt vor allem durch ungewöhnlich lange, aber niemals sinnlose Sätze und schöne Wortkombinationen wie beispielsweise "picknickende Multitoxiker". Ach ja, es gibt auch eine zarte Liebesgeschichte mit der vagen Aussicht auf ein Happy End. Als ich dort angelangt war, fühlte ich mich vollkommen gesundet und widmete mich einem Büchlein, dessen Hauptfigur mir biografisch näher zu stehen schien als die Techno-Heroen des Regener-Romans.
Wir begleiten den Kunsthistoriker Christoph Rubart an einem Sommertag im Jahre 2011. Die Stadt ist Düsseldorf und der Kunsthistoriker ein empfindsamer Mensch. Als Beobachter seiner Umgebung ist er nicht verlegen um Worte. Junge Frauen, die in der Straßenbahn auf die Displays ihrer Taschentelefone starren, kommen ihm in ihrer Ergebenheit vor, als "erwarteten sie jederzeit einen dringenden Anruf Gottes". Probleme hat er mit der Liebe, wie sollte es auch anders sein. Bereits als Vierzehnjähriger gab ihm die weibliche Gefühlswelt Rätsel auf, und auch jetzt, 33 Jahre später, vermag ihn das andere Geschlecht noch immer in große Verwirrung zu stürzen. Zum Glück gibt es die Kunst, über die er sich sachkundig zu äußern versteht. Wie gut Rubart sich selbst kennt, belässt der Erzähler, der seinem Helden sehr nahe kommt, im Ungewissen. Aufschlussreich ist vielleicht, wie er, leicht nervös, aber geduldig einem Fremden lauscht, der ihn auf einem Sommerfest mit einem nicht ganz schmeichelhaften Charakterporträt seiner Person konfrontiert.
Eine kleine Passion heißt der späte Debütroman des Publizisten Martin Krumbholz, dessen sprachliche und erzählerische Perfektion sicherlich auch die Frucht langjähriger kritischer Lektüre ist. Womit das gängige Vorurteil, Rezensenten würden über etwas urteilen, das sie selbst nicht vermöchten, widerlegt wäre. (Ich werde mich hüten, an dieser Stelle auf meine eigene, vor vielen Jahren im Selbstverlag erschienene Novelle Darf ich Dir meine Schallplattensammlung zeigen? zu verweisen.)
Wenn diese Kolumne ihren Weg zum Publikum findet, wird es bereits Winter sein. Grund genug, im Lyrikkalender Fliegende Wörter, der heuer im zwanzigsten Jahre erscheint, nach einem Sommergedicht Ausschau zu halten. Und siehe da, beim August werde ich fündig. "Sommermelancholie" sind die Verse Simon Borowiaks überschrieben, die mit den trefflichen Zeilen enden: "Auch ich geh jetzt von hinnen / im letzten Tagesscheine / dem Abendrot entrinnen. / Und du, o Leser, weine."

 

Sven Regener: Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt. Roman. 502 Seiten. Galiani. Berlin 2013. € 22,95.

Martin Krumbholz: Eine kleine Passion. Roman. 207 Seiten. Christoph Schroer. Lindlar 2013. € 17,99.

Fliegende Wörter 2014. 53 Qualitätsgedichte zum Verschreiben und Verbleiben. Daedalus. Münster 2013. € 16,95.