Beherzt warf ich einen ganzen Stapel Verlagskataloge
in die Altpapiertonne. Der praktische blaue Behälter war
schon gut gefüllt mit all den Zeitungen, die ich aus
alter Gewohnheit gekauft hatte,
um die zur Leipziger Buchmesse erscheinenden Literaturbeilagen
zu studieren. Doch kaum hatte ich mit der Lektüre begonnen,
ergriff eine ungeheure Lustlosigkeit von mir Besitz. Nie,
das wurde mir schlagartig klar, würde ich auch nur eins
der hier angepriesenen Bücher lesen wollen. All die langweiligen
Figuren, die von ihren Erfindern in öde Handlungen verstrickt
wurden, waren mir vollkommen gleichgültig. Und schon gar
nicht stand mir der Sinn danach, bemühte Versuche, unserer
abgenutzten Sprache durch mancherlei Experiment neue Kraft
einzuflößen, zur Kenntnis zu nehmen.
Ich schlurfte zum Plattenspieler und legte "Poor Boy" von
den Lords auf, einen Song, dessen miserables Englisch der
in den sechziger Jahren populären Beatgruppe viel
Spott eingetragen hatte. Aber mir kam der mit schönstem
deutschen Akzent geschmetterte Refrain gerade richtig:
"Poor boy, you must know the life is very hard to
go",
lautete die grammatisch fragwürdige, aber zweifelsohne
wahre Botschaft. Nun hieß es, konsequent zu sein.
Also griff ich mir den Haufen bedrucktes Papier und führte
ihn der Wiederverwertung zu.
Was nun? Ich war ratlos. All die Entschlossenheit, mit
der ich mich gerade der Grundlage einer meiner Haupttätigkeiten
beraubt hatte, war verflogen. Natürlich konnte ich nun
für ein paar Stunden in der Werkstatt verschwinden und
ein paar Holzteile zusammenleimen. Oder einen Blick in
die neue Ausgabe von Modellflug International werfen.
Doch spätestens heute Abend würde ich wie betäubt vor dem
Fernseher sitzen und mich von einem nervtötenden Programm
zum anderen zappen, immer in der Furcht, womöglich sogar
einen Beitrag zur Leipziger Messe sehen zu müssen.
Da fiel mein Blick auf ein Buch, das ich mir vor einiger
Zeit aufgrund seines Titels bestellt hatte. Betteln,
Borgen, Stehlen hieß es, und versprochen wurden
Aufzeichnungen aus dem "Leben eines New Yorker Schriftstellers".
Von dem Autor Michael Greenberg hatte ich noch nie zuvor
gehört,
was mich vermuten ließ, dass es sich um jemanden
handelte, der, ebenso wie ich, mit seiner Schreibarbeit
kaum eine warme Mahlzeit am Tag finanzieren kann. Aber
hier lag ich wohl falsch. Das Buch ist eine Sammlung von
Kolumnen, die Greenberg für das Times Literary
Supplement geschrieben
hat und die von lauter interessanten Begebenheiten in New
York berichten. Schön geschrieben, aber wenig Identifikationspotential
für mich. Bis auf jenen Satz, mit dem ein Lektor ein
Projekt des Autors abgelehnt hatte: "Dieses Manuskript
repräsentiert
alles, was ich an Romanen hasse". Eine starke
Formulierung. Greenberg berichtet auch von einem Aufsatz,
in dem Ted Solotaroff, so der Name des zornigen Verlagsmitarbeiters,
seinen Überdruss präziser artikuliert und amerikanischen
Schriftstellern "einen leidenschaftlichen Stil, gepaart
mit Inhaltsleere" bescheinigt. Ich glaube,
diesen Essayband mit dem schönen Titel Red Hot
Vacuum and Other Pieces on the Writing of the Sixties muss
ich mir besorgen.
Ich will übrigens zurücknehmen, was ich eben über
Sprachexperimente gesagt habe. Manchmal bringt der spielerische
Umgang mit Sprachmaterial eben doch verblüffende Ergebnisse
hervor. Der Dichter Ulf Stolterfoht zum Beispiel greift
für sein
aus acht Kapiteln zu fünf Texten bestehendes nomentano-manifest auf
Artikel aus der kommunistischen italienischen Zeitung Il
Manifesto zurück, die er, trotz unzureichender
Kenntnisse des Italienischen, ins Deutsche überführt
hat. Mich erinnert das Vorgehen an Ralf Rainer Rygulla
und Rolf Dieter Brinkmann, die von Guillaume Apollinaires
Gedicht 'La jolie rousse'
eine wild assoziierende deutsche Version unter dem Titel
"Der joviale Russe" anfertigten. Stolterfoht
scheint es in erster Linie um die Übersetzung von
Wirklichkeit in Sprache zu gehen. Tatsächlich, so
schreibt er in seinem Nachwort, habe er sich schwerer damit
getan, die politischen Konzepte der Autoren zu begreifen,
als das Italienische zu verstehen. Aber solche Schwierigkeit
hält er offenbar
für notwendig. Nichts ermüde "unter den
bis zum erbrechen gezuckerten formeln des derzeitigen betriebs"
derartig wie der Satz "liest sich wie ein roman",
der dem Leser die willkommene Reduktion von Komplexität
signalisiere. Dass es seinen Texten nicht auch so ergehe,
mag Stolterfohts Entscheidung für die radikale Kleinschreibung
zumindest mit beeinflusst haben. Ich habe sein Manifest
dennoch gerne studiert, auch wenn ich mir nicht anmaßen
will, alles verstanden zu haben. Aber das geht dem Autor,
glaubt man dem bereits zitierten Nachwort, ähnlich.
Nun ist es Zeit für eine Pause. Ich brühe mir
einen Kamillentee und blättere ein wenig in einem
Paperback, dessen Autor mir seit längerem bekannt
ist, weil er immer wieder, bislang jedoch ohne Erfolg,
Texte an die Redaktion dieser Zeitschrift schickt. Ein
unhaltbarer Zustand, dem aber bald Abhilfe zuteil werden
soll, wie man hört. Allein für das Gedicht
nämlich, dem das Bändchen seinen Titel verdankt,
hat sich der Österreicher Johannes Witek unsere Hochachtung
verdient: Was
sie im Norden der Insel als Mond anbeten, kommt bei uns
im Süden in die Sachertorte. Das ist fein formuliert
und regt zum Nachdenken an. Mein heutiger Lieblingstext
aber, unter all den unseren Alltag auf wundersame Weise
abbildenden Gedichten und Prosastücken, ist das Poem
"Mein Tag ist gerettet", in dem Witek Buddha,
Ghandi und Bill Gates dafür dankt, dass er weder Adalbert
Stifter noch Thomas Bernhard oder Heimito von Doderer ist.
Ein Gedicht von geradezu therapeutischer Wirkung. Nun bin
ich beinahe versucht, einen prüfenden Blick in die
Altpapiertonne zu werfen. Aber noch bleibe ich stark. |