Am Erker 59

 
Fritz Müller-Zech 59
Die Kolumne
 

Beherzt warf ich einen ganzen Stapel Verlagskataloge in die Altpapiertonne. Der praktische blaue Behälter war schon gut gefüllt mit all den Zeitungen, die ich aus alter Gewohnheit gekauft hatte, um die zur Leipziger Buchmesse erscheinenden Literaturbeilagen zu studieren. Doch kaum hatte ich mit der Lektüre begonnen, ergriff eine ungeheure Lustlosigkeit von mir Besitz. Nie, das wurde mir schlagartig klar, würde ich auch nur eins der hier angepriesenen Bücher lesen wollen. All die langweiligen Figuren, die von ihren Erfindern in öde Handlungen verstrickt wurden, waren mir vollkommen gleichgültig. Und schon gar nicht stand mir der Sinn danach, bemühte Versuche, unserer abgenutzten Sprache durch mancherlei Experiment neue Kraft einzuflößen, zur Kenntnis zu nehmen.
Ich schlurfte zum Plattenspieler und legte "Poor Boy" von den Lords auf, einen Song, dessen miserables Englisch der in den sechziger Jahren populären Beatgruppe viel Spott eingetragen hatte. Aber mir kam der mit schönstem deutschen Akzent geschmetterte Refrain gerade richtig: "Poor boy, you must know the life is very hard to go", lautete die grammatisch fragwürdige, aber zweifelsohne wahre Botschaft. Nun hieß es, konsequent zu sein. Also griff ich mir den Haufen bedrucktes Papier und führte ihn der Wiederverwertung zu.
Was nun? Ich war ratlos. All die Entschlossenheit, mit der ich mich gerade der Grundlage einer meiner Haupttätigkeiten beraubt hatte, war verflogen. Natürlich konnte ich nun für ein paar Stunden in der Werkstatt verschwinden und ein paar Holzteile zusammenleimen. Oder einen Blick in die neue Ausgabe von Modellflug International werfen. Doch spätestens heute Abend würde ich wie betäubt vor dem Fernseher sitzen und mich von einem nervtötenden Programm zum anderen zappen, immer in der Furcht, womöglich sogar einen Beitrag zur Leipziger Messe sehen zu müssen.
Da fiel mein Blick auf ein Buch, das ich mir vor einiger Zeit aufgrund seines Titels bestellt hatte. Betteln, Borgen, Stehlen hieß es, und versprochen wurden Aufzeichnungen aus dem "Leben eines New Yorker Schriftstellers". Von dem Autor Michael Greenberg hatte ich noch nie zuvor gehört, was mich vermuten ließ, dass es sich um jemanden handelte, der, ebenso wie ich, mit seiner Schreibarbeit kaum eine warme Mahlzeit am Tag finanzieren kann. Aber hier lag ich wohl falsch. Das Buch ist eine Sammlung von Kolumnen, die Greenberg für das Times Literary Supplement geschrieben hat und die von lauter interessanten Begebenheiten in New York berichten. Schön geschrieben, aber wenig Identifikationspotential für mich. Bis auf jenen Satz, mit dem ein Lektor ein Projekt des Autors abgelehnt hatte: "Dieses Manuskript repräsentiert alles, was ich an Romanen hasse". Eine starke Formulierung. Greenberg berichtet auch von einem Aufsatz, in dem Ted Solotaroff, so der Name des zornigen Verlagsmitarbeiters, seinen Überdruss präziser artikuliert und amerikanischen Schriftstellern "einen leidenschaftlichen Stil, gepaart mit Inhaltsleere" bescheinigt. Ich glaube, diesen Essayband mit dem schönen Titel Red Hot Vacuum and Other Pieces on the Writing of the Sixties muss ich mir besorgen.
Ich will übrigens zurücknehmen, was ich eben über Sprachexperimente gesagt habe. Manchmal bringt der spielerische Umgang mit Sprachmaterial eben doch verblüffende Ergebnisse hervor. Der Dichter Ulf Stolterfoht zum Beispiel greift für sein aus acht Kapiteln zu fünf Texten bestehendes nomentano-manifest auf Artikel aus der kommunistischen italienischen Zeitung Il Manifesto zurück, die er, trotz unzureichender Kenntnisse des Italienischen, ins Deutsche überführt hat. Mich erinnert das Vorgehen an Ralf Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann, die von Guillaume Apollinaires Gedicht 'La jolie rousse' eine wild assoziierende deutsche Version unter dem Titel "Der joviale Russe" anfertigten. Stolterfoht scheint es in erster Linie um die Übersetzung von Wirklichkeit in Sprache zu gehen. Tatsächlich, so schreibt er in seinem Nachwort, habe er sich schwerer damit getan, die politischen Konzepte der Autoren zu begreifen, als das Italienische zu verstehen. Aber solche Schwierigkeit hält er offenbar für notwendig. Nichts ermüde "unter den bis zum erbrechen gezuckerten formeln des derzeitigen betriebs" derartig wie der Satz "liest sich wie ein roman", der dem Leser die willkommene Reduktion von Komplexität signalisiere. Dass es seinen Texten nicht auch so ergehe, mag Stolterfohts Entscheidung für die radikale Kleinschreibung zumindest mit beeinflusst haben. Ich habe sein Manifest dennoch gerne studiert, auch wenn ich mir nicht anmaßen will, alles verstanden zu haben. Aber das geht dem Autor, glaubt man dem bereits zitierten Nachwort, ähnlich.
Nun ist es Zeit für eine Pause. Ich brühe mir einen Kamillentee und blättere ein wenig in einem Paperback, dessen Autor mir seit längerem bekannt ist, weil er immer wieder, bislang jedoch ohne Erfolg, Texte an die Redaktion dieser Zeitschrift schickt. Ein unhaltbarer Zustand, dem aber bald Abhilfe zuteil werden soll, wie man hört. Allein für das Gedicht nämlich, dem das Bändchen seinen Titel verdankt, hat sich der Österreicher Johannes Witek unsere Hochachtung verdient: Was sie im Norden der Insel als Mond anbeten, kommt bei uns im Süden in die Sachertorte. Das ist fein formuliert und regt zum Nachdenken an. Mein heutiger Lieblingstext aber, unter all den unseren Alltag auf wundersame Weise abbildenden Gedichten und Prosastücken, ist das Poem "Mein Tag ist gerettet", in dem Witek Buddha, Ghandi und Bill Gates dafür dankt, dass er weder Adalbert Stifter noch Thomas Bernhard oder Heimito von Doderer ist. Ein Gedicht von geradezu therapeutischer Wirkung. Nun bin ich beinahe versucht, einen prüfenden Blick in die Altpapiertonne zu werfen. Aber noch bleibe ich stark.

 

Michael Greenberg: Betteln, Borgen, Stehlen. Aus dem Leben eines Schriftstellers in New York. Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. 224 Seiten. Hoffmann und Campe. Hamburg 2010. € 20,-.

ulf stolterfoht: das nomentano-manifest. Unpaginiert. Peter Engstler. Ostheim/Rhön 2009. € 10,-.

Johannes Witek: Was sie im Norden der Insel als Mond anbeten, kommt bei uns im Süden in die Sachertorte. Gedichte und Prosa. 150 Seiten. Chaotic Revelry. Köln 2010. € 12,95.