"Das Leben, Herr Müller-Zech",
sagte der Mann hinter dem Schalter und lächelte, "das
Leben ist nun mal kein Ponyhof." Dann wandte er sich mit
einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen
allein sein wollen, während ich noch einige Sekunden lang
regungslos an meinem Platz verharrte. Die Auskunft hätte
nicht schlimmer sein können. Seit zwei Monaten hatte mein
Girokonto bei der örtlichen Sparkasse keinerlei Eingänge
zu verzeichnen. Und nun sei auch mein Kreditrahmen erschöpft,
das hatte mir Herr Fliederbusch, mein so genannter Kundenbetreuer,
unmissverständlich mitgeteilt. Überhaupt wäre die
Sparkasse nicht traurig, sollte ich mich entscheiden, meine Geldgeschäfte
- bei diesem Wort wusste Fliederbusch kaum an sich zu halten -
künftig bei einem anderen Institut abzuwickeln. Noch sehe
man davon ab, mir das Konto schlicht zu kündigen, wenn ich
mich aber nicht schleunigst ans Geldverdienen mache, sei eine
weitere Zusammenarbeit - und wieder hatte mein Gesprächspartner
sichtliche Mühe, ernst zu bleiben - ausgeschlossen.
Das war im August. Die Sonne schien, als ob sie keine andere Wahl
hätte, und noch ahnte niemand, dass ähnliche Gespräche
in nicht allzu ferner Zukunft mit Zeitgenossen geführt werden
würden, die in der Welt der Finanzen ganz anders verwurzelt
waren als ich, ein aus freien Stücken beschäftigungsloser
Literaturkritiker. Denn ich war, da hatte Fliederbusch recht,
mitnichten das Opfer eines unbarmherzigen Schicksals. Ohne Not
hatte ich auf leichtverdientes Geld verzichtet, hatte Rezensionsaufträge
abgelehnt, Pressetermine verbummelt und Redakteure nicht zurückgerufen.
Es war mir zu anstrengend geworden, ständig mit einer Meinung
aufwarten zu müssen. Schließlich wusste ich schon seit
einigen Jahren nicht mehr genau, was gute und schlechte Literatur
voneinander unterscheidet. Mit zunehmender Lektüre waren
mir meine Kriterien abhanden gekommen. Das mag merkwürdig
erscheinen, schließlich sollte man erwarten, dass sich ein
kontinuierlicher Leseprozess auf die Fähigkeit zum scharfen
literaturkritischen Urteil ausschließlich positiv auswirke.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Zumindest, was mich betrifft.
Eine Zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, es mit Kulturkritik
zu versuchen. So wäre es mir möglich, die Gegenwartsliteratur
in toto zu ignorieren. Aber welche Last müsste ich gleichzeitig
auf mich laden. Rechtzeitig erfuhr ich aus einem Aufsatz des Sinn
und Form-Chefredakteurs Sebastian Kleinschmidt,
was einen Kulturkritiker auszeichne. Dieser nämlich halte
seiner Zeit vor allem "die metaphysischen Verluste"
vor, "jene geistigen Einebnungen, wie sie durch die Mobilisierung
des Menschen und die technische Aussperrung der Elemente hervorgerufen
werden". Nun mag es sein, dass der Schriftsteller Gerhard
Nebel, der hier charakterisiert wird, zu solch einer Haltung fähig
war, was aber konnte ich den Verwerfungen der modernen Welt entgegensetzen.
Sicher, ich verweigerte mich der Mobilisierung weitgehend - selbst
der Weg von Oer-Erkenschwick ins nahegelegene Datteln erschien
mir als Zumutung -, doch auf die Möglichkeit, mir die Elemente
mit Hilfe der Technik vom Leib zu halten, hätte ich ungern
verzichtet. Schließlich werden auch überzeugte Metaphysiker
bei Regen nass. (Sebastian Kleinschmidt selbst schützt sich,
wie das Autorenfoto seines vortrefflichen Essaybandes zeigt, gerne
mit einer weißen Baseball-Kappe vor den Unbilden der Witterung.)
Anders als mancher Generationsgenossin aus dem so genannten Showgeschäft
war es mir unmöglich, mich neu zu erfinden. Also tat ich
nichts. Schaute stundenlang Dauerwerbesendungen im Fernsehen,
ernährte mich von Toastbrot und Billigmargarine, trank kannenweise
Kräutertee. Und wurde immer verzweifelter. Eines Nachts griff
ich sogar wieder zu einer Neuerscheinung, einem ansprechend gestalteten
Bändchen, das dreizehn aktuelle Geschichten versprach, "die
die großen Fragenkomplexe unserer Gegenwart fiktionalisieren".
"Ich komme in der Stadt an, es ist ein Mit-dem-Zug-Ankommen,
ich weiß nicht, in welcher Stadt ich ankomme, kenne ihren
Namen nicht", beginnt eine von ihnen. Große Fragen
kommen da auf, fürwahr, es sind die Fragen, mit denen sich
die Literatur der so genannten Moderne seit über hundert
Jahren herumschlägt. Aber sind es auch meine Fragen? In einer
anderen Geschichte lesen wir von Assja, die das Wasser "mit
allen Sinnen" liebt, die gar nicht genug bekommt vom Wassertrinken
und vom Baden. Ihre Eltern halten sie für verrückt,
doch dann findet sie in Johannes einen, der sie gerade wegen ihrer
Wasserbegeisterung liebt. Rätselhaft schön und nur scheinbar
naiv finde ich diesen Text, aber auch viel zu lang. Doch mit welchem
Recht sage ich das. Und was ermächtigt mich, eine weitere
Erzählung, "Verloren gehen", nur deshalb öffentlich
zu kritisieren, weil sie mich auf ungute Weise an Thomas Bernhard
erinnert, dessen Roman Gehen meine Geduld vor vielen Jahren
arg strapaziert hat. Damals war ich siebzehn und meinte, mich
mittels derartiger Lektüre von meinen Hesse, Castaneda und
Tolkien lesenden Altersgenossen abgrenzen zu können. Doch
die Zeiten, da ich mir von schwierigen Büchern Distinktionsgewinn
versprach, sind lange vorbei. Zweifelsohne kann Claudia
Bitter, eine 1965 geborene Oberösterreicherin, von
der die Geschichten dieses Buches aus dem just gegründeten
Wiener Klever Verlag stammen, mit Sprache umgehen. Und viele der
Texte wirken so, als wollte sie diese Fähigkeit immer wieder
unter Beweis stellen. Wer Freude an virtuoser Wortkunst hat, macht
deshalb nichts falsch, wenn er sich das Buch kauft. Das stelle
ich hier vollkommen leidenschaftslos fest. Für mich selbst
nämlich bedeutete die Lektüre in jener Nacht keine Rettung.
Meine Urteilskraft wollte sich nicht wieder einstellen.
Wie beneidete ich in einer solchen Situation meinungsfreudigere
Kollegen wie den britischen Journalisten Christopher Hitchens,
der die Romane Philip Roths so sehr verabscheut, dass er, ohne
Ermüdungserscheinungen zu zeigen, einen nach dem anderen
im Atlantic Monthly verreißt. Was ihm wahrscheinlich
stattliche Honorare einträgt. Probleme mit seiner Bank dürften
Hitchens so fremd sein wie mir jenes Wohlgefühl, das nur
ein gedecktes Konto erzeugen kann. Und nun hatte mich Herr Fliederbusch
lächelnd in den Abgrund gestoßen. Ich würde das
freie Kritikerdasein aufgeben und mir eine einträglichere
Tätigkeit suchen müssen. Doch bevor ich meinen alten
Freund Werner anrief, um nachzufragen, ob ich ihm auch mal für
längere Zeit beim Restpostenverkauf unter die Arme greifen
durfte, gönnte ich mir für eine Dreiviertelstunde ein
so genanntes Hörbuch. Der Autor lasse "die Neurosen
eines Bankangestellten aufblühen", hieß es auf
dem CD-Cover, und das wollte ich mir nach meiner Erfahrung mit
Herrn Fliederbusch nicht entgehen lassen. Matthias
Kröners Novelle Der Trichter und sein Henker
erzählt davon, wie das Leben eines braven Durchschnittsbürgers
namens Ferdinand durch ein verhextes Geschenk auf den Kopf gestellt
wird. Es handelt sich um einen Trichter, der in dem Bankangestellten
den unbändigen Wunsch erweckt, Schriftsteller zu werden.
Ferdinand ahnt nicht, dass er Teil eines perfiden Plans geworden
ist, mit dem sich der vor 350 Jahren verstorbene Nürnberger
Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer posthum endgültig
in die Literaturgeschichte einzuschreiben gedenkt. Denn zu seinem
Leidwesen ist der einst berühmte Autor des Poetischen
Trichters, einer praktischen Handreichung für angehende
Dichter, nur noch Spezialisten bekannt. Das zu ändern, ergreift
der eifersüchtige Poet von Ferdinand Besitz und lässt
den arglosen Bankangestellten Freud und Leid einer schriftstellerischen
Existenz erfahren. Diese fantastische Novelle ist ebenso amüsant
wie lehrreich, und wird vom Autor selbst mit Verve vorgetragen.
Augenblicklich besserte sich meine Laune, als ich mir vorstellte,
wie Herr Fliederbusch vom Geiste eines vergessenen Kafka-Zeitgenossen
heimgesucht wird. Und guten Mutes verschob ich meinen Telefonanruf
auf den nächsten Tag.
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