Es war eine dunkle und stürmische Nacht.
Zitternd stand ich vor dem Kaufland-Warenhaus am Berliner Platz
und rauchte. In meiner linken Jackentasche steckte eine Schachtel
Overstolz ohne Filter und in der rechten die neue Manesse-Ausgabe
von Walter Serners wunderbarem Letzte
Lockerung, Handbrevier für Hochstapler und solche, die es
werden wollen. Derart ausgerüstet hatte ich die Wärme
meiner Werkstatt verlassen, um ein wenig Abwechslung in ein Leben
zu bringen, das nur noch zwischen Bücherstapeln, halbfertigen
Flugzeugmodellen und Sägespänen stattzufinden schien.
Wenn es mir wenigstens gelingen wollte, all die Neuerscheinungen
aus ihren Plastikhüllen zu befreien und meiner Kritikerpflicht
genüge zu tun, wäre mein Seelenzustand ein besserer.
Zumal ich befürchten musste, dass meine Leser der immer neuen
Schilderungen einer sich nicht ändern wollenden Übellaunigkeit
irgendwann überdrüssig werden würden. Da war der
mysteriöse Anrufer gerade recht gekommen. Gegen Mitternacht
sollte ich mich im Zentrum Oer-Erkenschwicks einfinden, man würde
Kontakt mit mir aufnehmen. Eine fantastische Überraschung
warte auf mich. Unter normalen Umständen hätte ich schon
nach den ersten Worten den Hörer aufgelegt, doch an diesem
Abend durfte ich keine Vorsicht walten lassen. Alles war besser,
als weiterhin trübselig auf dem Sofa zu liegen und Schallplatten
aus den siebziger Jahren zu hören. Entschlossen nahm ich
Deep Purple in Rock vom Plattenteller, griff das Serner-Bändchen
und die Zigarettenschachtel und machte mich auf den Weg.
Und nun stand ich hier und fror bitterlich. Kein Mensch war zu
sehen. Auf der Zunge spürte ich Tabakkrümel. Ich warf
den Rest der Zigarette weg, schluckte und zog Serners Ratgeber
aus der Tasche. "Besuche niemanden in der Dämmerung"
hieß es da unter der Nr. 466. Nun, die Zeit der Dämmerung
war längst vorbei, vor einer Viertelstunde hatte es Zwölf
geschlagen. Aber noch immer war ich allein. Und hatte Angst. "Es
ist leichter, einem Verfolger zu entschlüpfen als der Verfolgung".
Was mochte Serner nur damit meinen? Wenn jetzt ein paar finstere
Buben auftauchen würden, um mir Gewalt anzutun, wäre
ich völlig hilflos. Es begann zu regnen. Ich mochte nicht
länger warten und machte mich auf den Heimweg.
An Schlaf war nicht zu denken. Vielleicht half jetzt ein Roman.
Sanfte, beschauliche Prosa mit beruhigender Wirkung. Morgen würde
ich mich dann an einer Rezension versuchen.
Ein Tablett mit Pfefferminztee und Schokoladenkeksen balancierend,
öffnete ich die Tür zur Werkstatt mit dem Ellenbogen
und hätte beinahe alles fallen gelassen. Wo sich vor einer
Stunde noch zu Dutzenden die Bücher stapelten, gähnte
nun Leere. Alle Rezensionsexemplare waren fort. Gestohlen. Ich
war hereingelegt worden. Wie die Einbrecher in die Werkstatt hatten
gelangen können, war mir ein Rätsel. Ich stellte das
Tablett ab und rief die Polizei. Es könne dauern, bis ein
Streifenwagen sich auf den Weg mache, teilte man mir mit. In dieser
Nacht sei der Teufel los. Das Gefühl hatte ich auch. Also
hieß es warten.
Neben dem Sofa lag ein Buch, das die Diebe offenbar übersehen
hatten. auweia lautete der Titel dieses Infantilromans.
Sein Verfasser Eckhard Henscheid war
seit vielen Jahren einer meiner bevorzugten Autoren. Erst neulich
hatte ich mit großem Vergnügen in einem voluminösen
Band mit seinen gesammelten Literaturkritiken geblättert.
Vor allem die Radio- und Zeitungsbeiträge aus den siebziger
und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen er
sich ausnahmsweise nicht mit bekannter Verve seinen erklärten
Vorlieben (Italo Svevo, Dostojewski, Ror Wolf, Kafka) oder Abneigungen
(Luise Rinser, Heinrich Böll) widmete, waren mir eine Quelle
der Freude, sah ich doch, wie man auch Brotarbeiten kenntnisreich
und würdevoll verrichten kann. Da könnte mir Henscheid
ein Vorbild sein, hätte ich denn etwas zum Rezensieren hier.
Das einzige mir verbliebene Buch, ausgerechnet sein kleiner neuer
Roman, eignete sich leider kaum dazu. Denn dafür hätte
ich es bis zur letzten Seite lesen müssen. Und das brachte
ich selbst jetzt nicht über mich. Eckhard Henscheid hatte
sich, als er die Geschichte der Tennisspielerin Heidi aufschrieb,
ausschließlich beim schlimmsten Sprachmüll bedient.
Gruselige Redewendungen, schauderhafte Verben und eklige Adjektive
wurden virtuos zu einem Sprachkunstwerk zusammengefügt, das
in der zeitgenössischen Literatur einzigartig dastand. Ob
Dialog oder Erzählerrede, alles war auf fantastische Weise
gleichermaßen widerwärtig. Gesteigert wurde der Effekt
dieser Prosa noch, indem Henscheid sein Personal um Figuren aus
einer Abteilung des sogenannten öffentlichen Lebens, die
man am liebsten umgehend schließen würde, erweiterte.
"Besonders laut wiehern da auf ein bestens gelaunter Roberto
Blanco und sein Freund Dieter Bohlen, der also den Sprung über
den großen Teich offenbar doch auch wieder geschafft hat."
Dieses Buch war ein Dokument des Leidens und definitiv große
Kunst. Man konnte es betrachten und bewundern, doch lesen ließ
es sich nur unter großen Schmerzen. Aber hatte nicht irgendjemand
mal gesagt, dass wahre Kunst wehtun müsse? Darüber mir
den Kopf zu zerbrechen, wollte mir in dieser Nacht nicht mehr
gelingen, denn nun sah ich endlich einen Streifenwagen in den
Hof einbiegen. Ich zündete mir eine Eckstein an und las noch
einen letzten Serner-Ratschlag, bevor ich den Polizisten die Tür
öffnete: "Geschichten erzähle nicht anderes als
karikierend. Nur wenn du daran teilhast, gib zu verstehen, dass
du sie nicht zu typisieren vermagst. Dann wird man dir vielleicht
glauben."
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