Die Neinsager sterben aus. Schade eigentlich, könnte
man da gemeinsam mit meinem Versicherungsberater Herrn Meier-Wohlbehüth
ausrufen, obwohl für den solche Veränderungen des Sprachgebrauchs
normalerweise "kein Thema" sind. An die Stelle also des
Neinsagers tritt der "Nicht-wirklich-Sager". "Möchtest
Du noch eine Tasse Kakao?" frage ich meinen sechzehnjährigen
Neffen Max. "Nicht wirklich", sagt er und grinst, denn
er erwartet, daß ich nun zu einem sprachkritischen Monolog
ansetzen werde. Tu ich aber nicht. Weil, manchmal wäre ich
selbst gerne in der Lage, wenigstens mit "nicht wirklich"
zu antworten. Wenn mich zum Beispiel Herr Meier-Wohlbehüth
fragen würde, ob ich eine Berufsunfähigkeits-Versicherung
abschließen wolle, könnte ich ihn mit diesen Worten abschlägig
bescheiden. Dummerweise vermeidet er mit traumwandlerischer Sicherheit
Fragen, die man mit nein oder zumindest mit "nicht wirklich"
beantworten könnte. Deshalb verfüge ich, der noch gelernt
hat, nein zu sagen, nun über eine Berufsunfähigkeitsversicherung,
und das, obwohl ich gar keinen Beruf ausübe. Da mag natürlich
überhaupt keine Vertrauenskultur zwischen Herrn Meier-Wohlbehüth
und mir aufkommen, und das ist eigentlich sehr schlecht fürs
Versicherungsgeschäft. Das Wörtchen "Vertrauenskultur"
habe ich in Eckhard Henscheids aufschlußreichem
Verzeichnis Alle 756 Kulturen auf der Suche nach der "Versicherungskultur"
gefunden. Es stammt von der vormaligen "Grünen-Spitzenpolitikerin"
Gunda Röstel. Eine Versicherungskultur gibt es natürlich
nicht, zumindest ist sie Henscheid bisher nicht aufgefallen. Mir
fehlt in seinem Verzeichnis übrigens eine der ursprünglichsten
Kulturen, nämlich die Bakterienkultur.
Eckhard Henscheid hat sich ja schon häufig als Sprachkritiker
hervorgetan, von ihm stammt, wenn ich mich recht erinnere, die schöne
Wortschöpfung "Dummdeutsch". Ich allerdings fühle
mich manchmal genauso dumm wie der Sprachgebrauch, den ich kritisieren
möchte. Das kommt vom Fernsehen, hätte meine Tante Martha
selig zu so einem Bekenntnis gesagt, und heute bin ich mehr denn
je geneigt, ihr zu glauben. Andererseits könnte ich, wäre
ich nicht Fernseher, meinen kritischen Passionen gar nicht nachkommen.
Aber genug von mir geredet, kommen wir zu den Büchern.
Thomas Linde, die Hauptfigur in Uwe Timms
neuem Roman Rot, besitzt überhaupt kein Fernsehgerät.
Der Jazzkritiker und professionelle Beerdigungsredner lebt in einer
fast leeren Wohnung, mit irdischen Dingen mag er sich nicht mehr
belasten. Sein wirklicher Besitz steckt in seinem Kopf. Linde ist
ein alternder Linker, einer der einmal organisiert für die
Umwälzung der Verhältnisse gekämpft hat. Nun hat
er eine junge, verheiratete Freundin und seine Erinnerungen. Die
werden stärker, als er eine Grabrede auf Aschenberger, einen
Gefährten aus der Zeit der politischen Kämpfe halten soll.
Aschenberger war bis zu seinem Tod ein Neinsager. In seiner Wohnung
findet Linde, außer einer Unmenge Bücher, auch ein Päckchen
Sprengstoff. Offenbar wollte Aschenberger in einem letzten symbolischen
Akt des Widerstands die Siegessäule sprengen. Nun trägt
Thomas Linde dieses Vermächtnis in ganz konkreter Form mit
sich herum, doch einlösen wird er es nicht.
Uwe Timms großartiger Erinnerungs- und Zeitroman beginnt damit,
daß sein Held von einem Auto angefahren wird; er ist bei Rot
über die Straße gegangen. Alles, was im weiteren Verlauf
des Romans erzählt wird, schießt Thomas Linde in den
wenigen Sekunden bis zu seinem Tod durch den Kopf. Wer wissen will,
worum es bei der nachgetragenen 68er-Debatte vor einigen Monaten
auch gegangen ist, sollte zuerst Rot lesen und dann vielleicht
noch Heißer Sommer, Timms sozialistischen Erziehungsroman
aus den frühen Siebzigern. Da faßt der Germanistikstudent
Ullrich den Entschluß, der universitären Bohème
und dem Seminarmarxismus adieu zu sagen und ein gewerkschaftlich
engagierter Lehrer zu werden. Am Ende des Buches kann man in Kursivschrift
lesen, woran damals nicht nur Romanfiguren glaubten, nämlich
daß es eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung geben
könne, ein "realisierbares Glück für alle".
Das klang schön, war aber wahrscheinlich ein großer Irrtum.
Darum geht es in Rot auch mehr um Fragen der individuellen
Existenz, zum Beispiel ums Altwerden und Sterben. Und die Politik
ist zum Bestandteil der persönlichen Geschichte geworden.
Nun bin ich tatsächlich ein wenig pathetisch geworden. Dabei
bin ich selbst natürlich schon aus Altersgründen gar kein
68er, wäre aber, das gestehe ich an dieser Stelle, manchmal
gerne einer gewesen. Schon immer habe ich fasziniert auf den Bildschirm
gestarrt, wenn die oft gesehenen Dokumentaraufnahmen von Demonstrationen,
Sit-ins und anderen Aktivitäten der revoltierenden Jugend zur
Ausstrahlung gelangen. Mittlerweile reicht es schon, wenn die Farbe
vom Fernsehschirm verschwindet und Bilder in schwarz-weiß
zu sehen sind, um mich für längere Zeit zu fesseln.
Und einen Schwarz-Weiß-Film hatte ich auch vor Augen, als
ich Thomas Hettches neuen Roman Der
Fall Arbogast las, eine mit fiktiven Elementen angereicherte
Rekonstruktion eines Kriminalfalls aus den fünfziger Jahren.
Wie viele andere Leser hat mich dieses gradlinig erzählte Buch
überrascht, da mir Hettche bislang eher als angestrengter Avantgardist
bekannt war. An seinen Erstlingsroman Ludwig muß sterben
(1989) erinnere ich mich nur noch aufgrund der erheblichen Mühe,
die mir seine Lektüre bereitet hat. Und nun begibt sich dieser
Hettche in die frühen Jahre der Bundesrepublik und zeichnet
detailversessen das Bild einer Gesellschaft, die geprägt ist
von einer geradezu panischen Angst vor dem Abgründigen, wie
es in der Figur des vermeintlichen Sexualmörders Arbogast Gestalt
annimmt. So entsteht ein ebenso packender wie beklemmender Roman.
Aber woher rührt dieses plötzliche Interesse an der jüngeren
Geschichte? Nicht von ungefähr denkt man beim Lesen häufiger
an die als "German Classics" annoncierten TV-Remakes von
Filmen aus der Adenauerzeit wie Das Mädchen Rosemarie
oder Es geschah am hellichten Tage. Möchte Hettche hier
partizipieren, oder geht es ihm um die Dekonstruktion eben solcher
nostalgie-induzierten Kolportage? Der Fall Arbogast läßt
diese Fragen auf intelligente Weise offen und ist wahrscheinlich
deswegen so erfolgreich, auch bei mir.
Noch weiter zurück in der Geschichte geht der bislang vor allem
als Autor von Kriminalromanen bekannte Michael
Molsner. Sein historischer Roman Um alles in der Welt
widmet sich dem merkwürdigerweise nicht sehr bekannten Umstand
der Finanzierung Lenins und seiner Bolschewiki durch das deutsche
Kaiserreich. Insgesamt 50 Millionen Mark sollen geflossen sein,
um sicherzustellen, daß Rußland dauerhaft aus dem Kreis
der Gegner Deutschlands im 1. Weltkrieg ausscheidet. Eingefädelt
hat die ganze Sache ein deutscher Diplomat namens Rietzler, der
in Molsners Roman Ritter heißt. Ein brisanter Stoff also,
und Molsner gelingt es, diesen zu einem über weite Strecken
faszinierenden Buch zu gestalten, das sich wie eine Geheimgeschichte
des 20. Jahrhunderts liest. Manchmal allerdings geraten ihm seine
Dialoge doch zu papieren, und dann fragt man sich, ob eine Biographie
Rietzlers nicht die bessere Option gewesen wäre. Der historische
Roman nämlich ist ein tückisch Ding, mit dem selbst der
große Feuchtwanger seine Probleme hatte. Um alles in der
Welt ist übrigens eine der ersten Veröffentlichungen
des frisch gegründeten münsterschen Oktober-Verlags, dessen
wagemutigen Gründern ich von dieser Stelle alles Gute bei der
Realisierung ihres ambitionierten Programms wünschen möchte.
Vor Jahren, als ich noch lyrisch tätig war, trug ich mich ja
selbst mit Plänen zur Gründung eines kleinen Verlages,
scheiterte jedoch schon bei der Beschaffung des Startkapitals. Das
Vertrauen der Oer-Erkenschwicker Volksbank in junge Entrepreneure
war damals eben noch ziemlich begrenzt. Und wahrscheinlich war das
auch richtig so. Das meint zumindest Herr Meier-Wohlbehüth,
dem ich diese Geschichte neulich erzählt habe. Dabei hat er
mich angegrinst und ein Auge verschwörerisch zugekniffen. Ob
er noch auf etwas anderes anspielen wollte? Ich sollte vielleicht
doch einen zweiten Blick in meine Versicherungsunterlagen werfen. |