Es gibt ein Sprichwort, dessen Sinn sich
heute nur noch schlecht erschließt: "Seh'n
wir uns nicht in dieser Welt, so seh'n wir uns in
Bitterfeld." Ludwig Bechstein führte 1853 ein Märchen
in seinem Deutschen Sagenbuch, in dem ein Zauberer mit
diesen Worten spurlos verschwindet. In Bitterfeld kreuzten
sich die Handelsstraßen Dessau-Leipzig und Berlin-Halle,
und Fuhrleute wie Messereisende gebrauchten das geflügelte
Wort wohl lange vor 1853.
Heute freilich verbindet man Bitterfeld nicht mit heimeligen
Sagen, sondern mit Umweltverschmutzung, auch wenn dieser
Ruf kaum mehr gerechtfertigt ist. Drei riesige Fabriken
wucherten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Bitterfeld
und Wolfen wie Geschwüre der prosperierenden Braunkohlen-Tagebaue:
Das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) stellte alles Mögliche
von Weichspülern bis Insektiziden her, die Farbenfabrik
und die Filmfabrik ORWO gehörten einst zur IG Farben.
Eine, die sich in Bitterfeld umgesehen hat, ist Monika Maron. Sie tat es erstmals Mitte der 70er Jahre,
als die Schlote noch rauchten. Und sie bereicherte das
Wende-Jubiläumsjahr um eine Facette, indem sie für eine
Reportage nach dreißig Jahren zurückkehrte.
Ein Anlass, mich selbst zu erinnern. Ich stamme aus dieser
Gegend. In Wolfen habe ich mein Abitur abgelegt, damals
noch auf der Erweiterten Oberschule. Wie so viele bin auch
ich danach weggegangen aus meinem Dorf, von dem aus man
die Schornsteine der Filmfabrik rauchen sehen konnte. Weil
ich mein Berufsleben nicht mit der Bedienung einer Abrissbirne
beginnen wollte. Meine Heimat ist es trotzdem geblieben.
Das haftet einem an wie Fischgeruch. Die Eltern haben ein
Haus dort.
Denk ich an Bitterfeld in der Nacht ... dann fällt
mir vor allem die Parsevalstraße zwischen Wolfen
und Bitterfeld ein. In einer anderen Zeit war sie eingezwängt
zwischen dem Chemiekombinat zur Rechten und der Farbenfabrik
zur Linken, autonomen Städten mit Straßenlabyrinthen,
Backsteinmonstren und tropfenden Röhren, die hierhin
und dorthin abzweigten, endlosen Leitungen für Öl, Gas
oder chemische Zwischenprodukte. Die Straße hieß im
Volksmund 'Straße der
tausend Düfte', und nichts konnte es besser treffen:
Fuhr man mit dem Fahrrad dort entlang, stank es alle zehn
Meter anders nach Gift und Chemie. Und mir fällt die
Säure-Kreuzung ein, an der ein Riesenschornstein orangefarbene
Schwaden in die Luft blies, vermutlich Schwefelsäure.
Ich denke an Weihnachtsmärchen im Kulturpalast, mitten
im Industriegebiet; und an den Silbersee, in dem nach einem
Schatz zu suchen den Gang in die ewigen Jagdgründe
bedeutete und von dem man spitzzüngig behauptete,
dass man darin ohne weiteres seine belichteten ORWO-Filme
entwickeln konnte. Der See war eingezäunt, man sah
von der Straße
aus die Baumgerippe am und im Wasser. Und ich erinnere
mich an eine Geschichte meines Cousins: Ende der 80er ließ er
- widerrechtlich, versteht sich - das Grundwasser analysieren,
das wir alle tranken. Der Laborant zeigte sich bei der
Auswertung erstaunt: "Bei diesem Nitratwert müssten
Sie eigentlich tot sein."
***
Monika Maron hat ähnliche Eindrücke in ihrem Debütroman
Flugasche verarbeitet. "Und diese Dünste, die als
Wegweiser dienen könnten", heißt es bei
ihr, "bitte gehen Sie geradeaus bis zum Ammoniak,
dann links bis zur Salpetersäure. Wenn Sie einen stechenden
Schmerz in Hals und Bronchien verspüren, kehren Sie um
und rufen den Arzt, das war dann Schwefeldioxyd."
Es ist diese unfassbar maßlose Umweltzerstörung,
die die Hauptfigur Josefa Nadler in den 70er Jahren in
Rage bringt. Sie soll für ein Berliner Wochenmagazin eine
nette Reportage über "B." abliefern. Doch
die Erschütterung über Industrieanlagen aus der Zeit
vor dem Ersten Weltkrieg, über die 180 Tonnen Flugasche,
die das Kraftwerk täglich über die Stadt schneit, lassen
sie das austarierte Taktgefühl vergessen, diese Balance
zwischen Schnauzehalten und Sticheln, die einen Zeitungsartikel
für die Zensoren gerade noch akzeptabel macht. Sie beschreibt
die Dinge, wie sie sind. Die Reportage erscheint nicht,
in der Redaktion muss sie zum Spießrutenlauf antreten,
sie kündigt schließlich. An das "echte" Kraftwerk
erinnere ich mich nicht; die Siedlung allerdings, die dort
Spalier stand, ertrinkt heute in steigendem Grundwasser,
das früher künstlich niedergehalten wurde, als man
nebenan noch Braunkohle förderte.
Josefa Nadler ist unverkennbar das Alter
Ego von Monika Maron. Ihre Wochenpost-Reportagen über
B. werden damals gedruckt: "Nicht gelogen, aber auch
nicht wahr", beschreibt sie das Dilemma im Roman.
Das Unwohlsein bleibt, Mitschuld zu tragen aus Unüberlegtheit, weil man "synthetische Pullover braucht oder
eine bestimmte Art von Fliegentöter". Der Roman
ist die Untersuchung der Möglichkeit, sich dem sozialistischen
Gang zu verweigern ("Sie wollte richtig verstanden
werden", nennt sie es), eine Konfrontation, die auch
bei Maron zunächst nur im Kopf stattfindet. So erwägt
sie als Josefa, zwei Versionen der Geschichte zu schreiben,
eine wahre und eine druckbare. Und sie thematisiert die
Selbstzensur, die Schere im Kopf, mit der der Realitätssinn
herumschnippelt: "Es ist nur ein kurzer Weg von undruckbar
zu undenkbar, ... dazwischen liegt nur unaussprechlich."
Das Buch durfte in der DDR (trotz zweier Versuche 1978
und 1988) so wenig erscheinen wie Josefas Reportage.
Es erschien 1981 bei S. Fischer in Frankfurt/Main, was
Maron in der DDR einigen Ärger einbrachte. Es mag Zufall
sein, dass seit 1982 in der DDR alle Umweltdaten streng
geheimgehalten wurden. Das Buch jedenfalls wurde ein
Erfolg; bis heute gibt es Nachauflagen.
Das Angenehme an ihrem Roman ist, dass Maron beim Erzählen
nicht den Zeigefinger hebt. Sie platziert ihn auf der Wunde,
bitter und humorvoll, in einem Buch letzter Wahrheiten,
das sich auch heute noch erstaunlich frisch liest und keine
DDR-Folklore ist, sondern auch ein Roman über Emanzipation
und den unbedingten Willen zur Individualität in einem
System der Nivellierung.
***
Die Wochenpost wurde 2002 eingestellt, doch Monika Maron
schlägt 2009 ihren persönlichen Bitterfelder Bogen und
gibt dem so entstandenen Buch den entsprechenden Titel.
Das ist zweideutig wie vieles in Marons Texten: Der Bitterfelder
Bogen ist auch das neue Wahrzeichen der Stadt, eine Stahlkonstruktion in Form einer Baggerschaufel, die seit der EXPO
weithin sichtbar aufragt und sich zu einer Touristenattraktion
entwickelt, hat man von dem Kunstwerk doch einen weiten Blick ins Land.
Blühende Landschaften freilich, die ein satter Kanzler
einst versprach, betrachtet man am besten, wenn man erneut
die Parsevalstraße entlangfährt. Viel Heideland
zwischen den verbliebenen Betrieben. Tausende, die Jahrzehnte
in den Werken gearbeitet hatten, durften in Auffanggesellschaften
den ganzen Moloch einebnen, mit einem Aufwand von 850 Millionen
Mark - eine Zahl, so unfassbar wie die 180 Tonnen
Flugasche. Innerhalb von drei Jahren sank die Luftverschmutzung
in der Region um 92 Prozent. Dank Bitterfeld posieren bundesdeutsche
Repräsentanten heute klimapolitisch auf hohen Rössern:
Der Zusammenbruch der Industrie im Osten sorgt dafür,
ambitionierte Klimaziele zu schaffen, da diese auf den
Werten von 1990 basieren, als die Schlote noch qualmten.
Als ich das Buch zum Anlass nehme, nach Jahren wieder nach
Bitterfeld hineinzufahren, geht es mir wie der Autorin:
Die Straßen sind ganz anders. Nicht nur ihre Beschaffenheit,
auch ihr Verlauf. Nach 1989 wurde die Region neu vermessen,
von den Straßenbauern neu durchpflügt. Ich will
ins Zentrum der Chemie und fahre prompt daran vorbei.
Was sich bei meinem Besuch bestätigt: Die Straße
der tausend Düfte verströmt immer noch Gerüche, wenn
auch nicht mehr so aggressiv. Heute riecht es hier nach
Silage, dort nach feuchter Pappe. Jeder kann in der Parsevalstraße
entdecken, was er will: Die einen werden die Großzügigkeit
und Weitschweifigkeit des Geländes loben, andere werden
schmerzlich die Lücken zur Kenntnis nehmen.
Monika Maron schaut sich auch auf dem Bitterfelder Bogen
um, doch ihr neues Buch beschreibt vor allem, wie sie nach
dreißig Jahren wieder an die Dinge und die Leute
herangeht. Sie porträtiert Menschen, die hier geblieben
sind. Oder hierher kamen.
"Die Vorstellung, ein Montagmorgen im Jahr 2000 könnte
einem beliebigen Montag dieses Jahres gleichen, war unheimlich",
heißt es in Flugasche. Bitterfelder Bogen ist auch
die Selbstversicherung, dass diese Vorstellung nicht Realität
geworden ist.
***
Mit Klischees ist es so eine Sache. Etwas
Wahres ist immer dran, aber oft überlebt sich ein Klischee
und bleibt doch in den Köpfen kleben. Bitterfeld ist so
ein Klischee. Wer von denen, die noch nie hier waren, würde
vermuten, dass die Stadt an einen riesigen See mit Yachthafen
grenzt, an ausgedehnte Wälder; dass Braunkohlen-Bagger
als 'LandArt' konserviert wurden und heute als Kulisse für
Konzerte von Björk bis Theodorakis dienen; dass es in
unmittelbarer Nachbarschaft - von Maron leider
unerwähnt gelassen - eines der europaweit seltenen
Buchdörfer gibt, einen historischen Ortskern, der praktisch
in jeder Scheune ein Antiquariat beherbergt? Aus der Ferne
bin ich selbst immer wieder überrascht, welchen kulturellen
und geschichtlichen Reichtum die Region zu bieten hat.
Die Himmelsscheibe von Nebra wurde in der Nähe gefunden,
Wörlitz ist nur der bedeutendste Park eines ganzen Weltkulturerbe-Gartenreichs
und auch nicht weit entfernt. Sommerfrische Bitterfeld
also? Neue Chemiebetriebe gibt es jedenfalls kaum. Nur
etwa 5 Prozent der Neuansiedlungen nach 1990 verdienen
ihr Geld mit Chemie: Das Stigma haftet an. Warum fällt
auch mir zu Bitterfeld zuerst Umweltverschmutzung ein?
Vielleicht war es die vermeintlich sichere Distanz des
Heimatdorfs, die mich abgrenzt: Der Dreck wehte meist nicht
in unsere Richtung. So baute sich jeder sein Ausredenhaus.
Und: Auch ich erlebte die Veränderungen nach der Wende
nurmehr als Tourist.
Bei meinem Besuch erklimme auch ich den Bitterfelder Bogen.
Es ist November, ich bin allein, nur der Wind ist zu hören
und die Geräusche einer mittagsschläfrigen Stadt: ein
Zug am nahen Bahnhof, ein Dachdecker, der einsam die Stellung
hält und Nägel in Dachbalken treibt. 127 Meter über
Null, und in dieser Gegend fühlt man sich wie auf einem
echten Berg. Bis nach Leipzig und Leuna geht der Blick,
bis zum Petersberg - der anderen Landmarke in der
Region, archaischer, mythischer - und streift über
endlose Taiga, die ich früher nie wahrgenommen habe, wohl,
weil das Gebiet Tagebau-Sperrzone war und beim Vorbeifahren
pflichtschuldig weggeblendet wurde.
Das andere Klischee ist die Unvereinbarkeit von Ost und
West. Was sich aber heute in Bitterfeld-Wolfen abspielt,
was sich in zwei oder drei Jahrzehnten als next big thing
erwiesen haben könnte, hat seine Ursprünge eigentlich
im Westberlin der 80er Jahre. Auch dorthin schlägt
Maron ihren Bitterfelder Bogen: zu Reiner Lemoine und seinem
Ingenieurbüro Wuseltronik. Ohne es zu ahnen, drehten
Lemoine & Co.
am ganz großen Rad, als sie zur Jahrtausendwende
in Thalheim bei Wolfen einen Ableger mit geplanten vierzig
Mitarbeitern gründeten. Der wuchs der Muttergesellschaft
bald über den Kopf: Keine zehn Jahre später hat
er 2.700 Mitarbeiter und wurde in besseren Börsenzeiten
mit einem Wert von neun Milliarden Euro taxiert. Die Rede
ist von 'Q-Cells', dem Weltmarktführer für Solarzellen. "Q
steht für Qualität."
Die Dreckschleuder Europas steigt wie Phönix aus der Flugasche
und reüssiert ausgerechnet mit Umwelttechnologie - die
Wirklichkeit beweist einen doppelbödigen Humor, der auch
aus Monika Marons Feder stammen könnte.
Und weil so viele Hoffnungen auf dem Unternehmen ruhen,
stehen Lemoine & Co. folgerichtig im Mittelpunkt der
Reportage. "Scheiß auf den Kommerz. Lass uns
was Richtiges machen." Dieser Ausspruch des 2006
verstorbenen Lemoine markiert den Aufbruch und zieht sich
als Leitsatz durch das ganze Buch.
Auffällig, dass im Unterschied zur Wut des Romans in der
Reportage ein wohlwollender, fast optimistischer Grundton
gewählt wird, auch wenn Platz für Melancholisches bleibt,
wenn etwa die guten alten Zeiten bei Wuseltronik betrauert
werden, wenn bedauert wird, dass beim zwangsläufigen Expandieren
der Idealismus und das Familiäre der Unternehmung auf
der Strecke blieben zugunsten der Beschäftigung mit Renditen
und KGVs.
Besonders interessant ist Marons Bericht, wenn sie sich
wieder dem Kleinen widmet, wenn sie bei den Ingenieuren
oder bei einer Buchhändlerin am Küchentisch sitzt
und wie in ihrem Debütroman in knappen Worten ganze
Biographien skizziert und ohne Larmoyanz die Verwerfungen
der Wende aufzeigt. Diese Verwerfungen ließen
Einheimische oft in Krater stürzen, die sich unvermittelt
auftaten. Für einige Mitarbeiter des CKB gab es zum Beispiel
eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme im eigentlichen
Sinne des Wortes, bei der Verwaltungsangestellte für
ein Jahr in einer fiktiven Firma beschäftigt waren,
die lediglich so tat, als ob sie etwas tat. Kostenkalkulation,
Buchführung, Rechnungslegung - alles ohne realen
Hintergrund. Die Leute waren wenigstens weg von der Straße.
Doch Monika Maron will dieses deprimierende Bild, dieses
Bild vom Investitionsgrab Ost, ein wenig korrigieren; deshalb
bei allem Problembewusstsein wohl der optimistische Tenor. "Ich
war nicht auf der Suche nach dem Elend", sagte sie
in einem Interview. Sie besucht Leute, die nicht aufgegeben
und ihren neuen Platz gefunden haben. Es sind Anekdoten
wie die von Uwe Schmorl, die das Buch lesenswert machen.
Zu DDR-Zeiten hätte man Schmorl vielleicht einen "Aktivisten
der ersten Stunde" genannt. Als er bei Q-Cells
anfängt, sind dort keine zehn Mitarbeiter beschäftigt. "Zum
Vorstellungsgespräch fuhr er mit seiner Frau. In Kreuzberg
haben sie lange nach einem Restaurant mit deutscher Küche
gesucht und am Ende beim Türken gegessen." Zwei
Sätze, die knapp die Orientierungslosigkeit Ostdeutscher
nach dem Mauerfall skizzieren. Erfolgsgeschichte hin oder
her - wohnen will hier keiner (ich auch nicht mehr).
Wer sich die Fotos des Buches anschaut, kann das verstehen:
Zu trist wirken die meisten Ecken noch immer. Außerdem
ist Bitterfeld nicht Berlin; auch das quirligste Vereinsleben
kann diese Urbanität nicht herstellen. Anfang der
90er fuhren wir mehr als fünfzig Kilometer weit, um
auf der grünen Wiese in Günthersdorf (!) ins
Multiplex-Kino zu gehen und bei McDonald's die neue ars
vivendi kennenzulernen. McDonald's erwies sich als ein
Geschwür
der neuen Zeit, längst gibt es auch in Bitterfeld
und Wolfen Filialen, und charmanter ist gerade das Neubauviertel
Wolfen-Nord dadurch nicht geworden. Die Satellitenstadt
mit ihren Sechsgeschossern wird radikal zurückgebaut
(vulgo: abgerissen), um dem Leerstand etwas entgegenhalten
zu können. Schade darum ist es nicht. Die Fotos ihres
Sohnes Jonas illustrieren also nicht nur, sie konterkarieren
Marons Beobachtungen zugleich. In hellen Farben und mit
wenig Kontrast, meist in der kalten Jahreszeit aufgenommen,
wird gezeigt, dass auch die Zeugnisse des Erfolgs Patina
ansetzen müssen, dass eine Landschaft (nach-) wachsen
muss, ehe sie heimelig wird, auch wenn sie Heimat ist und
bleibt. |