Am Erker 89

 
Lyrik, Prosa, Essays
Am Erker 89, Münster, November 2025
 

Daniel Krauser
Cordoba

Es hat damit angefangen, dass Manni zu seiner 25er Zündapp "ach, du mein wackeres Pferdchen" gesagt und dabei den Tank gestreichelt hat. Die Mühle hat so um die 80 Sachen gemacht, Krümmer verlängert, größeres Ritzel drin und der Zylinder aufgefeilt. Die Bremsen waren noch original, für die hatte Manni kein Geld, der Lehrlingslohn war mager und sein Vater ständig mit der Alimente im Rückstand. Manni hat also den Tank seines Mofas liebkost, als hätte er ein Rassepferd vor sich, und dabei komische Sachen gesagt, aber das hat uns nicht weiter gewundert: Manni hat öfter komische Sachen gesagt, und das hatte schon vorher abgefärbt, also bevor dann alles völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Den Ausdruck "liebkost" habe ich jedenfalls von ihm.
Ich kann mich noch ganz gut an die Szene erinnern, war'n Frühlingstag, Sonne auf dem Wasserbecken, in das wir immer reingeschifft haben, Wind im Gestrüpp am Trafohäuschen, in dem Jagdschein-Lothar, den Legenden der Siedlung folgend, angeblich mal mit einem Briefkasten kopuliert hat. Frau Heinz hat im 66er-Block aus dem Fenster geschaut und uns misstrauisch gemustert, Kissen auf dem Fensterbrett, rosa Kittelschürze, die frisch gedrehten Locken wie ein Schutzhelm.
"Nachtschwarze Stute", hat Manni weitergeredet, "Scheibe des Mondes, Oliven im Sacke am Sattel." Eigentlich hing am Sattel ja bloß die Werkzeugtasche, und was Oliven waren, davon hatten wir Ende der 70er nur eine ungenaue Vorstellung, aber was soll's: "Ach, meine wackere Stute! Ach, welch endloser Weg!", so Manni zum guten Schluss und seinem Mofa, und dann hat er die Zündapp durchgetreten, den Gashebel aufgedreht, einen Wheelie hingelegt und ist mit quietschenden Reifen abgezischt, Richtung Nachmittagssonne beziehungsweise Trinkhalle an der Ringstraße. Kurz danach hat's angefangen.
Ganz sicher bin ich mir bis heute nicht, warum's eigentlich angefangen hat. Sonnenstich vielleicht, oder die letzte Dose Bier war schlecht, aber eigentlich glaube ich, hat es eingesetzt, weil Frühling war und irgendwie alles möglich. Manni stand kurz vor der Gesellenprüfung, und er hat davon geträumt, einen Tuning-Laden für Mopeds aufzumachen. Heini hatte ne neue Freundin, die war sogar aus dem Reihenhausviertel schräg gegenüber, und sie war ziemlich scharf, hatte immer so kurze Sommerkleidchen mit Blumenmuster an. Und ich war fast fertig mit der Schule, und wenn ich nicht so viel Schiss gehabt hätte, hätte ich sogar aufs Gymnasium gekonnt. Stand uns also die Welt offen, so dachten wir jedenfalls, und deshalb hat's glaube ich angefangen.
Beim Heini hat's an dem Tag beim Abendessen begonnen. Angeblich hat er aus dem Fenster geschaut und die Abendsonne auf den Wolken betrachtet, und dann soll er gesagt haben: "Dann sieht man auch ein Schiff auf Klippen scheitern, und manchmal rosenfarbene Moscheen." Sein Vater hat ihm umgehend eine aufs Maul gehauen, weil er dachte, der Heini wolle ihn verarschen.
Bei mir hat's direkt angefangen, nachdem Manni weg war. Ich bin zum Becken gelaufen und hab den Müll betrachtet, der auf der Wasseroberfläche geschwommen ist, und dabei ist mit so'n komischer Geruch in die Nase gestiegen. "In des Meerlands Fiebernarden ein Geruch nach Weiberblut", habe ich laut gesagt, und als ich gemerkt habe, was ich da gesagt habe, da war ich so verwirrt, dass ich den Satz den ganzen Weg zurück zum 64er-Block wiederholt habe.
"Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen", hat Heini uns am nächsten Nachmittag an den Fahrradständern vor dem 64er begrüßt, den Arm hatte er um seine Freundin gelegt. Die hat da schon ziemlich distanziert  geguckt, und wenig später hat sie den Heini dann auch für irgendeinen Seitenscheitel aus ihrem Viertel abserviert. Eigentlich hätten wir bei der Begrüßung auch komisch gucken müssen, haben wir aber nicht. "Die zwei Flüsse von Granada stürzen vom Schnee zum Weizen", hat Manni gesagt, "oh Liebe, die ging und nicht kam". Der Manni war eigentlich immer der Hellste von uns dreien. Ich hab gar nichts gesagt, weil mir der Heini leid getan hat, und so habe ich nach oben geschaut, der Himmel sah verbummelt aus und bleich, als wäre ihm die Schminke ausgegangen. Ich hatte damals keine Ahnung, wo das jetzt wieder herkam, und ich habe bis heute keine.
Irgendwie hatte sich das ganze Viertel verändert, seit jenem Tag, an dem Manni in seinem Mofa eine Stute erkannt hatte. Es war nicht so, dass da plötzlich ein Leuchten über allem lag, ein goldener Schimmer oder das Fluoreszieren von Phosphor, der Ausdruck stammt übrigens auch von Manni, der war immer besser mit Worten als ich. Das mit dem Leuchten wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen für die Siedlung, in der der alte Trojanski jeden Tag um exakt 11.30 Uhr sein Frühstück aus Eckes Edelkirsch aus dem Fenster seiner Wohnung im zweiten Stock gereihert hat, konnte man die Uhr nach stellen. Es war eher so, als würde man die Dinge durch einen Flaschenboden betrachten oder durch dünnes Reispapier, irgendwie war alles wie immer und doch ganz anders, das Wasserbecken Meer und die Straßen Alleen und die Dinge von innen belebt, keine Ahnung, ob das jetzt Sinn macht.
Ich kann mich beispielsweise noch erinnern, wie ich eines Abends auf dem Spielplatz vor dem 48er-Block stand, dem vorletzten in der Straße. Es war das Ende eines heißen Frühlingstags, ein Kinderwagen schrie, und Hunde fluchten. Steffi Krämer aus meiner Klasse ging quer über den Platz, in einem Kleid, das um ihre Beine spielte, und dabei sah sie jeden Mann wie einen süßen Heiland an. Ich habe dann den 48er gemustert, hinter dem langsam die Sonne unterging, und der schaute voller Wut dahin, wo fern in Einsamkeit die letzten Häuser sich ins Land verirrn.
"Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett", meldete sich eine Stimme in meinem Rücken. Ich drehte mich um, und da stand Manni, eine Bierdose in der Hand. Ich muss ziemlich grimmig aus der Wäsche geguckt haben, jedenfalls legte er eine Hand auf meine Schulter und sagte: "Europa, dieser Nasenpopel aus einer Konfirmandennase. Wir wollen nach Alaska gehn!", und dann fing er an zu lachen, und er lachte noch beim Weggehen.
Eine Woche später ist er dann wirklich gegangen. Heini und ich standen nachmittags am Wasserbecken, und da kam Manni angerauscht, hat einen halben Meter vor uns gebremst und dabei gewiehert wie ein Pferd. Auf den Gepäckträger seiner Zündapp hatte er Satteltaschen geschnallt, ein Schlafsack quer obendrüber.
"Cordoba, einsam und fern", hat Manni gesagt und dabei in die Ferne geblickt, als sehe er etwas, das wir nicht sehen. Als er uns gemustert hat, den Heini und mich, da hat er gewirkt, als würde er überlegen, was er uns zumuten könne. Und dann hat er gesagt: "Ach, mich erwartet der Tod, eh ich nach Cordoba komme", erst hat er gelacht, und anschließend ist er ernst geworden. Zum Abschied hat er noch grüßend die Hand gehoben, und dann ist er mit heulendem Motor abgerauscht, der Ringstraße zu. "Schwarze Pferde ziehn vorüber", hat Heini noch gesagt, "dunkle Leute, auf den tiefen innern Wegen der Gitarre", und dann haben wir uns zugenickt und sind auseinandergegangen.
Manni ist an jenem Tag bis zur Auffahrt auf die A 61 gekommen. Dort ist er in einen langsam fahrenden Getränkelaster reingerauscht, die Bremsen waren halt die Schwachstelle an seiner Mühle. Getan hat er sich nicht viel, Schlüsselbein gebrochen, Hautabschürfungen; aber dann war eben wieder alles, wie's vorher war, als habe jemand einen Vorhang wieder zugezogen, durch den wir für einen kurzen Moment hatten durchspitzeln können.
Der Heini war alleine, als er im Krankenhaus gestorben ist, das ist jetzt vier oder fünf Jahre her. Seine Ex ist schon lange weg, Manni ab dem späten Vormittag besoffen und kaum noch ansprechbar. Und ich habe es nicht ausgehalten an seinem Sterbebett, die Schläuche, die in ihm drinsteckten, die Maschinen und das Rasseln aus seinen Lungen voll Asbestkrebsschleim.
Wenn ich Manni besuche, was ich selten tue, dann sagen wir beide nicht viel, es ist, als wären uns die Worte ausgegangen. Was Manni wahrscheinlich alles schon geahnt hatte, er war wie gesagt der hellste von uns dreien. Manni wusste also, dass uns eigentlich die Worte fehlen und dass alles, was wir in jenen Tagen gesagt und gedacht haben, nur geborgt war. Und wenn dir die Worte fehlen, dann bleibt alles, wie es ist, und es gibt kein Leuchten und keinen Blick hinter den Vorhang, und das Wasserbecken ist Müll und nicht Meer.
Manni, das weiß ich heute, hat eigentlich den Tod gesucht, als er nach Cordoba aufgebrochen ist; und an jenem Tag haben wir alle ihn gefunden.