Am Erker 89

Jürgen Goldstein: Nick Drake

 
Rezensionen

Jürgen Goldstein: Nick Drake. Eine Annäherung
 

Wie nicht entgratetes Metall
Georg Deggerich

Musik hat die besondere Eigenschaft, den Hörer in ihren Bann zu schlagen, sich in seinem Kopf festzu­setzen und ihn ein Leben lang nicht mehr loszulassen. Oft weiß man noch Jahrzehnte später, wann und wo man ein bestimmtes Musikstück gehört hat, und erinnert sich nicht selten sogar an die damit verbundene Stimmung. Auch Jürgen Goldstein kann seine erste Begegnung mit Nick Drake genau datieren: Am 27. August 1979 spielte Alan Bangs in seiner Sendung Night Flight im Sender des BFBS vier Songs von Nick Drake in Folge, ein Moment, von dem Goldstein sagt: "Was ich da zu hören bekam, war anders als alles, was ich kannte, einnehmend schön und fremd zugleich, mit einem eigen­tümlich dunklen Glanz und von einer Schärfe wie nicht entgra­tetes Metall an der Schnittkante."
Mehr als vierzig Jahre später versucht Goldstein, seiner ungebro­chenen Faszination für den Künstler nachzugehen. Entstanden ist dabei ein intimes, sich oft auf persönliche Hörer­lebnisse stützendes Porträt, das nicht den Anspruch erhebt, Drakes notorisch geheimnis­volle Person zu entschlüsseln, aber zumindest – wie der Titel verspricht – sich ihr anzunähern. Die detaillierte Rekonstruktion der Entstehungs­geschichte der drei zu Lebzeiten veröffentlichten Alben und deren Einordnung in die Musik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre bilden dazu den einen Teil. Tatsäch­lich nahe kommt der Autor Nick Drake hingegen anderswo. Etwa auf dem Friedhof von Tanworth-in-Arden, wo er Drakes Grab besucht und beim Blick über die sanft geschwun­gene Landschaft der Midlands ein wesentliches Merkmal seiner Musik zu fassen bekommt: "Und mit einem Mal denke ich: Ja, das ist es. Dies ist die Landschaft zu seiner Musik. Ich habe den Ursprung ihres Klanges ausge­breitet vor mir liegen. In dieser gemäßigten, schönen, anmutigen und einladenden Natur hat für ihn alles begonnen, so als wäre sie selbst Musik geworden. Die natürliche Wärme seines Gitarren­spiels und seiner Stimme gründen in dieser Landschaft. Sie ist so unaufgeregt wie diese Natur, die dem Auge mit ihren Baumgruppen Halt bietet." Man muss nicht selbst am Grab gestanden haben, um zu ahnen, dass da etwas dran sein könnte.
Der Mythos Nick Drake ist eng mit seinem frühen, durch eine Überdosis Tabletten herbei­geführten Tod mit gerade einmal 26 Jahren verknüpft. Dass Drake unter schweren Depres­sionen litt und zuletzt zur Arbeit an seiner Musik oder gar zu Aufnahmen im Studio kaum noch fähig war, steht außer Frage. Dennoch warnt Goldstein davor, das Dunkle in Drakes Musik mit seiner Depression kurzzu­schließen. Für ihn ist es vielmehr umgekehrt: "Drake war kein am Weltschmerz künstlerisch Leidender, an seiner Krankheit war nichts romantisch. Daher ist auch Pink Moon nicht vornehmlich ein Ausdruck seines Leidens, in dem man sich als Hörer suhlen kann, sondern vielmehr der letzte künst­lerische Triumph über seine Krankheit."
Von einem "künstlerischen Triumph" hat Nick Drake nichts wissen wollen. "I've failed in everything I've tried to do", beschied er seiner Mutter wenige Monate vor seinem Tod. Paradoxer­weise wird bis heute mit dem Klischee des an sich selbst und der Welt gescheiterten Künstlers für die Musik Nick Drakes geworben. Jürgen Goldstein zeigt, dass es auch anders geht und es höchste Zeit ist, Licht ins Dunkel zu bringen.

 

Jürgen Goldstein: Nick Drake. Eine Annäherung. 292 Seiten. Matthes & Seitz. Berlin 2025. € 25,00.