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Ein wilder Roman
Joachim Feldmann
Marlies ist 17 und unglücklich. Das liegt nicht nur an dem Unfall, den sie mit dem Auto ihrer Mutter gebaut hat. Oder an deren neuem Lebensgefährten, einem abgehalfterten Schauspieler namens Wolfram. Oder gar an ihren Schulkameraden Flo, der sich Marlies' Aufmerksamkeit als unwürdig erweist. Etwas anderes quält die junge Frau, nämlich eine schwarze Klaue, die aus ihrem linken Zeigefinger wächst. So weit, so unheimlich. Tatsächlich durchweht ein leiser Hauch von Schauerromantik Martin Lechners fabelhaften neuen Roman Die Verwilderung. Der, anders als diese inhaltlichen Hinweise vermuten lassen, als Identifikationsangebot für weibliche junge Erwachsene nur sehr eingeschränkt taugen dürfte. Zwar lässt Lechner seine Heldin ihre Geschichte selbst erzählen, doch er stattet sie mit einem formidablen, wenig altersgerechten Sprachvermögen aus. Warum das so ist, klärt sich am Ende. Anderes nicht. Zum Beispiel lässt sich nur darüber spekulieren, was denn der Grund für die traumatische körperliche Veränderung sein könnte, die Marlies (und nicht nur ihr) so viel Pein bereitet, aber auch für einen rasanten Plot gut ist. Leichter sind literarische Einflüsse auszumachen, von barocker Metaphernverliebtheit bis zur drastischen Kolportageästhetik des 19. Jahrhunderts. So würde der schmierige Erbschleicher Wolfram in einschlägigen bürgerlich-realistischen Fortsetzungsromanen eine gute Figur machen, ebenso wie der undurchsichtige Dr. Senckenberg, der sich liebend gerne Marlies' Zeigefinger annehmen würde. Und dass sich der Autor großzügig und mit Ansage bei Patricia Highsmith als Expertin für menschliche Abgründe bedient, ist unbedingt lobenswert. So entsteht ein spannender, mitunter sehr komischer, aber auch hinreißend tragischer Roman. Denn Marlies ist eine Heldin, die unser Mitgefühl verdient. Nicht zuletzt, weil ihr allerhand zugemutet wird. Überraschungen, die ihren Erfinder während des Schreibens ebenso verwunderten und verwirrten wie seine Figur, so Lechner in einem Gespräch mit dem Autor Tobias Premper. Und das ist nicht die schlechteste Voraussetzung für ein großes Lesevergnügen. |